Es kommt Felix wie eine Ewigkeit vor, es ist wie ein halbes Jahrhundert, die Zeit, in der er in einem dunklen, halb zerstörten Flur steht, seinen Kopf zwischen den Händen hält, die Hitze zu spüren, die in ihm brodelt, die Angst Paul zurücklassen zu müssen und ja, auch die Angst selber zurückzubleiben. Diese eine Szene ist es, die Felix immer wieder verfolgt, wenn er nachts hochschreckt, wenn er an einer Tankstelle den Zapfhahn in den Tank hält oder wenn er mit seiner Familie den Sonntagskrimi schaut. Diese Szene voller Verzweiflung und Angst, nicht der Tote, den er geborgen hat, nicht der Holzsplitter in seiner Schulter, sondern dieser Moment, in dem alles so weit weg, alles so verloren scheint, der ist es, der ihn immer wieder einholt.
Auch eine Ewigkeit hat mal ein Ende und so hört Felix es plötzlich, so, als wäre es schon immer da gewesen, ein leises fast überhörbares Klopfen. Leise, aber dennoch kontinuierlich. Es kommt von weiter hinten im Flur, aus dem Teil, den Felix noch nicht erkundet hat. Felix kneift die Augen zusammen, kann durch den dicken Rauch im Flur aber nichts sehen. – Okay Felix, egal, du schaffst das, auch ohne etwas zu sehen.– Zitternd schließt er die Augen ganz, konzentriert sich nur auf seine Ohren und auf das Geräusch, das, als er sich nähert, immer deutlicher wird. Mit einem leichten Ruck stoßen seine Schienbeine gegen eine große Betonplatte. Vorsichtig und bedacht bückt er sich und greift ein wenig unsicher, aber bestimmt unter die Platte. Er ertastet Metall, es ist warm und bewegt sich in seiner Hand wie eine Schlange. Mit einem kräftigen Zug zieht Felix es aus seinem Versteck. „Oh, Herr Felix Mending, haben Sie den Feueralarm gehört? Ich glaube wir sollten evakuieren, soll ich die Feuerwehr rufen?“ Felix schüttelt seine Entdeckung. „Ja, es brennt, aber hey, scheiß doch auf die kack Feuerwehr, die kommen jetzt auch zu spät!“, erwidert er niedergeschlagen dem kleinen Roboter. „Herr Felix Mending, das ist eine zutiefst negative Äußerung, ich kann Sie gerne an unseren Haustherapeuten weiterleiten, wenn Sie es wünschen?“ Felix schüttelt den kleinen Kerl kräftiger. „Nein, nein ist schon gut, aber hey“, keimt in Felix eine Idee auf, „wie viel kannst du heben? Wie viel Gewicht meine ich?“ Der Roboter deutet auf das zerschlagene Display in seinem Greifer. „Mein maximales Stemmgewicht liegt bei zehn Kilo, das ist das Doppelte meines Eigengewichts, Herr Felix Mending.“ Die Wolke der Hoffnung zerplatzt so schnell, wie sie gekommen ist. Egal. Er muss es versuchen, welche Wahl hat er denn auch? Flink packt er den kleinen Roboter. Die improvisierte Fackel ist mittlerweile nur noch ein glühendes Stück Glut, aber Felix braucht seine Augen nicht für das, was er vorhat. Hektisch klemmt er die Greifarme des Roboters unter den Holzbalken, der noch immer schwer auf seinem Freund liegt, gibt dem kleinen Kerl die Anweisung zu heben und stemmt dann selbst die Beine in den Boden, um den Balken zu heben.
Wer weiß, wie viel der kleine Roboter am Ende wirklich half den Balken zu bewegen, aber das ist in diesem Moment nicht wichtig; wichtig sind die Hoffnung und der Schein der Unterstützung, die Felix dazu bringen den Balken in die Höhe zu stemmen. Er wendet alles auf, was er an Kraft in sich trägt, er lässt die Hitze und das Pochen raus aus seinem Kopf, in seine Arme und Beine laufen und stemmt den Balken von seinem Freund hinunter.
In dem Moment, als der Balken sich von Paul gelöst hat, atmet er gierig die Luft ein, nur um danach so heftig zu husten, dass Felix schon denkt, dass er ersticken muss. Aber er erstickt nicht, auch nicht, als Felix versucht, ihn auf die Beine zu stellen, und nicht, als er es endlich geschafft hat und sie auf dem Weg nach draußen sind. An diesen Teil erinnert Felix sich kaum noch, er scheint wie von seiner Festplatte gelöscht zu sein, er hat keine Ahnung mehr, wie er Paul und sich die Treppen zur Werkshalle hinunterbekommen hat, wie er ihn an den Flammen vorbeigeschleppt und sich die Hände am heißen Zufahrtstor verbrannt hat. Das Einzige, das später wiederkommt, ist das Gefühl den ersten frischen Atemzug zu tun, das Gefühl die kühle Nachtluft in seine schmerzenden Lungen zu saugen, das Gefühl, wie er das Bewusstsein verliert, und das Gefühl auf der Trage des Krankenwagens zu liegen, einfach nur dazuliegen und sich tragen zu lassen, ohne die Sorge einen Fehler zu machen, ohne die Sorge einen Freund zu verlieren.
9. Greifswald, Deutschland
Jalma runzelt fragend die Stirn, wie kann so etwas sein? Ungläubig und mit der absoluten Sicherheit, sich trotz des dritten Mal Lesens doch verguckt zu haben, liest sie die Mail ein viertes und ein fünftes Mal, selbst als sie die Mail ein sechstes Mal überfliegt, wollen sich die Worte nicht ändern. Nervös schiebt sie den Schreibtischstuhl auf dem Linoleumboden hin und her. Ihre Augen sind eisern auf den Bildschirm gerichtet. Nach dem siebten Mal Lesen löst sich ihre Hand wie eigenständig von der Tastatur und gleitet zielsicher in die Aktentasche, die neben dem Schreibtisch steht. Einige Sekunden später scheint sie gefunden zu haben, nach was sie gesucht hat, und kehrt aus den Tiefen der braunen Tasche zurück. Anstatt auf die Tastatur fliegt die Hand weiter an der Schreibtischplatte vorbei in Richtung Jalmas Gesicht. Gekonnt platziert sie eine Zigarette in ihren Mundwinkel und fliegt erst dann wieder auf die Tastatur zurück. Jalma, die ihre Augen immer noch starr auf den Computerbildschirm richtet, zündet die Zigarette mit dem Feuerzeug, das die andere Hand bereits aus der Schreibtischschublade gefingert hat, an und nimmt einen tiefen Zug in ihre Lungen. Erst als die Wirkung des Nikotins einsetzt, lösen sich ihre Augen vom Bildschirm und sie bläst den Rauch an die Bürodecke, dem Feuermelder entgegen. Desinteressiert beobachtet sie, wie der Rauch sich an der Decke verteilt. Nach einem weiteren, genießerischen Zug entspannen sich ihre Augen allmählich; um ihnen weitere Ruhe zu gönnen, lehnt Jalma ihren Kopf auf die Rückenlehne und schließt ihre Augen. Leider hält die erhoffte Entspannungsphase nur wenige Sekunden, bevor ihre Anwaltsgehilfin die Ruhe durchschneidet und sie zwingt ihre Augen wieder zu öffnen. Mit einem Lächeln öffnet sie die Tür und sprudelt in den Raum herein. „Herrgott, Herrgott, die Fusionsanwälte gehen einem ja tierisch auf die Nerven, du wirst nicht glauben, was ich von …“ Ihr Gesprudel verstummt schlagartig, als sie die Zigarette sieht. „Jalma!“, ruft sie ärgerlich durch den Raum hindurch und wischt auch sogleich hustend und wild mit den Armen gestikulierend an dem Schreibtisch vorbei zu dem hinter Jalma liegenden Fenster. Mit einem beherzten Ruck und der Entschlossenheit eines Feuerwehrmanns zieht sie das Fenster auf und hustet in die heiße Luft hinaus. Anschließend greift sie hektisch nach einer auf dem Schreibtisch liegenden Akte und fächert damit in der Luft herum. Jalma, die das Ganze ohne eine Regung ihres Körpers beobachtet, nimmt einen weiteren Zug und stößt die Luft durch ihre Nase in den Raum, dann drückt sie den Stummel auf der Schreibtischplatte aus und schiebt die Asche mit der Maus in den Papierkorb. Angespannt lehnt sie sich in ihrem Lederstuhl zurück und dreht sich zu der dürren, immer noch wild fuchtelnden Gehilfin um. „Jalma, Herrgott, du kannst hier doch nicht rauchen, nicht nur, dass das natürlich streng verboten ist, denk doch mal daran, wenn der Feuermelder angegangen wäre, diesen Einsatz hättest du dann bezahlen müssen, und dieser scheußliche Geruch.“ Mit gerümpfter Nase sieht sie an die Decke zu dem Feuermelder hinauf. „Der ist aus“, entgegnet Jalma mit völligem Desinteresse an den Sorgen ihrer Anwaltsgehilfin. „Wie aus? Was ist aus?“, bekommt sie auch sogleich die Antwort. „Na ja, der Feuermelder, den habe ich ausgemacht. Weiß ich ja selber, dass der sonst angehen würde.“ Die hektische Frau schnappt nach Luft. „Du hast was bitte? Oh Gott, oh Gott, weißt du eigentlich, was das für Konsequenzen gehabt hätte, wenn ein Feuer ausgebrochen wäre, nicht auszumalen.“ Mit einer Hand hält sich die dürre Frau, die Jalma oft an ein Erdmännchen erinnert, ihren Kopf, die andere hält symbolisch die Nase zu. „Wilma, jetzt mach mal einen Punkt, lass diesen Gott aus dem Gespräch heraus und mach dich locker. Wenn es in meinem Büro anfängt zu brennen, ist es doch egal, ob mein Rauchmelder funktioniert, bis sich die Flammen durch die Tür gefressen haben, hätte es entweder einer gemerkt oder der Rauchmelder im Flur wäre angegangen, aber jetzt genug von diesen Banalitäten, lies das!“ Noch genervter als zuvor dreht sie den Computerbildschirm in die Richtung ihrer immer noch japsenden Kollegin und steht auf, um ihr ihren Platz anzubieten. Verdutzt über die viel zu entspannte Antwort ihrer Chefin setzt sie sich auf den unter ihr viel zu breit wirkenden Lederstuhl und setzt, nicht ohne Jalma noch einmal einen ernsten Blick zu schenken, die Brille auf. Bevor sie sich interessiert zum Bildschirm hinüberbeugt, versucht sie noch einmal an Jalmas Vernunft zu appellieren. „Ich verstehe eh nicht, warum du so viel Geld für diese Totmacher ausgibst, ich meine, wie viel Geld kostet eine Packung, 40 Euro?“ Jalma rollt angespannt mit den Augen und schiebt den Stuhl näher an den Schreitisch heran. „Es sind 32 Euro, wir sterben eh alle, hast du in letzter Zeit Nachrichten gesehen, die Polkappen sind nahezu weg, es gibt mehr Klimaflüchtlinge, als irgendein Land der Welt versorgen kann, und der Regenwald brennt zum dritten Mal dieses Jahr. Also könntest du mich und meine Nikotinsucht bitte einmal ignorieren und dich dieser, meiner Meinung nach, völlig merkwürdiger Mail, widmen?“ Den verdutzten erdmännchenartigen Blick analysiert Jalma als Ja und deutet mit einem gequälten Lächeln auf den Bildschirm. Die Gehilfin lässt ein eingeschnapptes „Hm“ erklingen und beginnt die Mail zu überfliegen.
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