Leider ist es jedoch kein Albtraum, zumindest keiner von der Sorte, aus dem man irgendwann wieder erwacht. Eher einer, der auf einmal und vollkommen unerwartet zu einer Realität wird, der man sich auch nicht im Schlaf entziehen kann, denn als Nikolas den Hörer zurück auf den Schreibtisch senkt, macht er nicht den Eindruck, als wäre alles nur ein großes Missverständnis gewesen. Statt eines freudigen, erleichterten Gesichtsausdrucks legt sich ein dunkler Schatten auf das Gesicht des Mannes. Er schaut vom Schreibtisch auf und fixiert Jalma einen Moment, bevor auch er sich am Schreibtisch vorbeischiebt und neben Jalma auf das Sofa fallen lässt. „Alles nur ein Missverständnis, mmh?“, bricht Jalma zuerst das Schweigen. Nikolas hebt seine Hand und legt sie sanft auf Jalmas Knie. „Nein, leider nicht“, erwidert er niedergeschlagen, ohne Jalma anzusehen. „Den Bundeskanzler konnte ich nicht erreichen und auch den Bundespräsidenten nicht, allerdings ging sein Stellvertreter ans Telefon.“ Ein Räuspern. „Er bestätigte mir die Bekanntmachung des ersten Absatzes und wird mir in der nächsten halben Stunde den genauen Wortlaut per E-Mail zuschicken.“ Langsam nimmt er seine Hand von Jalmas Knie. „Außerdem habe ich ihn unter einem Vorwand dazu bekommen mir zu berichten, was da im Landtag jetzt eigentlich vor sich geht. Die Antwort kam leider auch schon schneller, als ich mich hätte drauf einstellen können. Er sagte, er wüsste selbst nicht, warum er es noch länger verschweigen sollte, da er ja ohnehin seinen Job verloren hätte und er niemandem mehr Rechenschafft schuldig sei.“ Mit ernstem Ausdruck wendet er sich Jalma zu, die gespannt an seinen Lippen hängt. „Jalma, der Bundespräsident ist nicht erreichbar, da er sich seit vier Wochen im US-Bundesstaat Nevada aufhält. Nevada ist die politische Hauptzentrale der neuen Weltpartei GPA und wird es auch unanfechtbar bleiben.“ Jetzt muss auch Jalma ihrer Verzweiflung Luft machen und grätscht ihrem Partner ins Wort. „Moment mal Nikolas, bist du es nicht immer, der sagt für einen guten Anwalt gibt es das Wort unanfechtbar nicht?“ Ein tiefes Ausatmen. „Ja, das sage ich immer, aber Jalma, hier geht es nicht um irgendeinen Rechtsverstoß oder ein Verbrechen, hier geht es um einen weltweiten Zusammenschluss, der … wie sage ich das jetzt am besten? Einen weltweiten Zusammenschluss, der politischen Meinungen, ich meine, es gibt keine einzelnen Parteien mehr. Aus jedem Land ist unter den jeweiligen Politikern des Landes ein Kandidat gewählt worden, der sein Land vertritt. Das bedeutet, dass aus jedem Land ein Politiker und sein jeweiliger Stellvertreter dieser Weltpartei beitreten. Also egal, ob aus Japan, den USA, Deutschland, den Philippinen oder Burundi, in jedem Land werden alle Politiker entmachtet, außer den zwei gewählten Kandidaten.“ In Jalmas Kopf sprudeln die Rechtsverstöße gegen mindestens hundert Menschenrechte. Stotternd wendet sie sich Nikolas zu. „Abbb...er , wie, kkk…ann, denn so ettt…was.“ Sie stoppt, um sich zu fassen und versucht es erneut. „Aber, wie kann so etwas denn überhaupt funktionieren, ich meine wir leben doch in einer Demokratie, alleine das Bundeswahlgesetz wird hier in nahezu allen Abschnitten gebrochen, angefangen mit Abschnitt 1 § 1!“ Nikolas stoppt seine Partnerin. „Ja Jalma, das ist mir auch klar, ich habe auch Jura studiert. Viel drastischer finde ich Artikel 20 Absatz 2.“ Einen Moment muss Jalma nachdenken. „Ja, du hast recht, alle Staatsgewalt geht vom Volk aus. Wir müssen dagegen vorgehen.“ Nikolas springt auf, rauft sich durch seine Haare und dreht sich, nachdem er zweimal energisch in seinem Büro auf und ab gelaufen ist, abrupt zu Jalma um und schreit durch den Raum. „Ja, das ist richtig Jalma, aber es scheint so, als wäre unser gesamtes Rechtssystem mir nichts dir nichts aus den Angeln gehoben und im nächsten Abfluss versenkt worden, also könntest du bitte aufhören zu denken, dass das geändert werden kann. Das ist unanfechtbar, selbst der beste Anwalt könnte nicht den Entschluss der ganzen Welt umkehren. Es gibt jetzt eine neue Weltordnung und wir müssen wohl die nächsten Tage abwarten, um herauszufinden, welche Gesetze unseres Grundgesetzes immer noch in Kraft bleiben.“ Er legt etwas mehr Zärtlichkeit in seine Stimme. „Ich würde dir auch gerne mehr sagen, wirklich, das kannst du mir ruhig glauben, aber nicht nur deine Welt, sondern auch meine stürzt gerade in sich zusammen.“
Was ein merkwürdiger Tag das gewesen ist und alles hat mit dieser einen Mail angefangen, die alles veränderte. Als sie nach dem Gespräch mit ihrem Partner aus seinem Büro tritt, sind die meisten bereits gegangen. Erschöpft schlendert sie durch den Vorraum und durchquert langsam die Glastür, die in ihr Büro zurückführt. Sie betätigt ihre Schreibtischlampe und den Schalter des Oberlichtes und setzt sich auf den Schreibtischstuhl, um das E-Mail-Programm zu schließen. Weil das natürlich nicht so klappt, wie sie sich das vorgenommen hat, beantwortet sie noch die nächsten drei Stunden Mails, die komplett unerwartet heute unbedingt noch beantwortet werden müssen. Nachdem sie die letzte Zeile geschrieben und die Mail mit ihren Initialen versehen hat, drückt sie den kleinen „Senden“-Knopf, der unter der Mailzeile bereits darauf wartet den Feierabend antreten zu dürfen. Mit einem erleichtert klingenden „ wischsch “ verabschiedet sich die Mail in die Tiefen der Mailübermittlung. Jalma drückt die Fäuste in die schmerzenden Augen, vermutlich hat sie es heute ein wenig übertrieben, aber in Anbetracht der Tatsache, dass es vermutlich der letzte Tag sein würde, an dem alles so war, wie es sein soll, ist sie froh noch ein wenig länger geblieben zu sein. Erschöpft löst sie die Hände vom Gesicht, fährt den Computer herunter und klappt den Laptop, den sie manchmal als zweiten Bildschirm nutzt, zu. Während der Laptop in ihrer braunen Aktentasche verschwindet, tippt sie eine Nachricht für ihren Neffen in ihr Handy – Bin im Büro aufgehalten worden, komme jetzt aber nach Hause, um diese Uhrzeit sollte ja auch nicht mehr so viel Verkehr sein, freue mich auf dich – , dann folgt auch das Handy dem Laptop in die Tiefen der Tasche. Im Gehen schaltet Jalma die Schreibtischlampe aus, greift nach ihrer Tasche und verschwindet, nicht bevor sie das Deckenlicht löscht, durch die Glastür in den Vorraum. Langsam schlendert sie durch ihn hindurch zu den Fahrstühlen. Im Vorbeigehen wirft sie einige Akten auf den Schreibtisch ihrer Gehilfin und begibt sich in eine der Fahrstuhlkabinen, als ihr das Licht auffällt, das aus dem Büro ihres Partners scheint. Einen Moment ringt Jalma mit sich. Da sie ja eigentlich versprochen hat nicht immer so lange zu arbeiten, entscheidet sich dann aber doch dafür, der Ursache auf den Grund zu gehen. Im letzten Moment wischt sie durch den Spalt der sich schließenden Fahrstuhltür, klemmt ihre Tasche unter den Arm und schreitet erneut durch den Vorraum. Im schwachen Licht des Computerbildschirms betrachtet sie ihren Partner, seine blonden Haare stehen ihm in alle Richtungen, die Kontaktlinsen sind der Brille gewichen und die Krawatte liegt glattgestrichen auf der steifen Couch. Einige der Bücher haben ihren Weg anscheinend nicht zurück in das Bücherregal gefunden und liegen, mal offen, mal zu, quer durch das Büro verteilt. Sanft klopft sie an die Glastür und lächelt ihrem Kollegen aufmunternd entgegen, als der seine Augen vom Bildschirm löst und Jalma verdattert durch die dicken Gläser seiner Brille entgegenschaut. Beschämt springt er auf und fängt unbeholfen an seinen Anzug zurechtzuzupfen und hie und da einige Papiere und Akten zu ordnen. „Jalma, du bist noch hier?“, spricht der große Mann zu ihr, die durch die Tür ins Büro schlüpft. Bevor Jalma den Schreibtisch erreichen kann, was in Anbetracht des Minenfelds aus Büchern und Akten keine leichte Sache ist, reißt er sich noch schnell die schwere Brille vom Gesicht. „Das Gleiche könnte ich auch über dich sagen“, entgegnet sie verschmitzt, greift nach der Brille und setzt sie liebevoll zurück auf Nikolas’ Nase. „Ich weiß, wie du damit aussiehst, also keine falsche Scheu, außerdem weiß ich sehr wohl, dass du ohne das Ding nahezu blind bist.“ Jalma meint eine leichte Röte im bläulichen Licht des Bildschirms erkennen zu können und schmunzelt ein wenig über den sonst so ernsten Anwalt. „Ja, ich bin nur hier, weil ich …, ich also …, ich noch einen Fall vor morgen durchgehen muss“, druckst Nikolas herum und nickt dabei ein wenig zu bestätigend. „Nikolas, ich weiß, warum du hier bist, mach mir doch nichts vor, hast du denn schon was Brauchbares gefunden?“ Bestürzt sinkt sein Kopf ein wenig tiefer zu Jalma herunter. „Nein“, ein leichtes Kopfschütteln, „ich habe leider noch nichts Brauchbares finden können, es gibt zwar einen ganzen Haufen von Gesetzen, die gebrochen wurden, die man auch nicht durch Ausnahmeregelungen brechen darf, aber keine ist ausschlaggebend genug, um ein so drastisches Urteil zu mildern oder sogar rückgängig zu machen. Ich habe in den Gesetzgebungen vieler Länder nachgeschlagen und da ich mich nicht so gut mit anderen Rechtssystemen auskenne, auch mit befreundeten Anwälten telefoniert. Die meisten wussten noch gar nichts von dem Zusammenschluss und konnten sich deswegen noch nicht in das Thema einarbeiten; die, die es wussten, denen ging es genau wie mir, sie sind ratlos. Auch in ihren Ländern müsste man mehr als ein Dutzend Gesetze brechen, um so etwas durchzubekommen.“ Jalmas Augen blitzen für einen kurzen Moment auf. „Aber Nikolas, das bedeutet ja, dass wir vielleicht doch eine Chance haben, ich meine, Gesetze dürfen ja nicht einfach außer Kraft gesetzt werden.“ Ein mitleidiger Blick wandert Jalma entgegen. „Jalma, wenn alle Regierungen der Welt offenbar, ohne mit der Wimper zu zucken, ihre Macht abtreten und sich mit vorher verfeindeten Ländern zusammenschließen, dann steckt da etwas in einem Ausmaß hinter, das niemand aufzuhalten vermag, erst recht nicht eine mittelgroße deutsche Anwaltskanzlei.“ Jalma hat das Ende von Nikolas’ Ausführungen kaum mehr mitbekommen, in ihrem Kopf drehen sich die Informationen, wie in einem Kaleidoskop und fallen wie bunte Steine zu immer neuen Horrorszenarien zusammen, die es nicht zulassen einen klaren Gedanken zu fassen. Ihre Beine werden zu Gummi und der Boden wird ihr unter den Füßen weggerissen. Nikolas, der erst jetzt richtig mitbekommt, dass seine Gesprächspartnerin immer weniger aufmerksam wirkt, bekommt im letzten Moment noch ihren Arm zu fassen, fängt sie, kurz bevor sie auf einen der Bücherstapel fallen kann, ab und stemmt die kleine Frau nach oben in seine Arme. Vorsichtig, mit Jalma im Arm, kraxelt er über die vielen Bücher hinweg, hin zu seinem Sofa. Mit einer der Akten wedelt der Anwalt ihr ein wenig Luft zu, da das Fenster zu öffnen keine besonders erfrischende Alternative gewesen wäre.
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