Aus dem Schwarz des Flurs vor ihnen taumelt eine Frau. Ihr einst weißes Dukjon-T-Shirt ist grau vom Ruß und mit einer Hand presst sie es gegen Mund und Nase, in der anderen hält sie ein Handy, mit dessen Taschenlampe sie den beiden ins Gesicht leuchtet. Ein entsetzter Schrei entgleitet ihr und beinahe hätte sie ihr Handy fallen lassen, wenn Felix es nicht im letzten Moment, kurz vor dem Boden, aufgefangen hätte. Der hastigen Bewegung folgt eine Erinnerung an seine Schulter und er knickt stöhnend zusammen. Felix’ Begleiterin schnellt ihm hinterher und leuchtet mit dem Handy auf seine blutende Schulter. „Sie verdammtes Arschloch, Sie sind ja doch verletzt. Da, Sie bluten.“ „Das ist nichts“, flucht Felix und entreißt ihr das Handy. Mit der Hilfe der beiden Frauen kommt er wieder auf die Beine und die drei bleiben in einem Halbkreis stehen. Felix wischt der Frau, die aus dem Flur gekommen ist, den Ruß aus dem Gesicht und schreit erleichtert auf. „Cara! Oh mein Gott, es geht dir gut.“ Ungläubig gafft er Pauls Sekretärin an. „Ja, ich bin okay, aber habt ihr das gehört? Da muss was eingebrochen sein. Wir sollten verschwinden und Herrgott“, springt die rundliche Frau entsetzt zur Seite, „was ist mit dem Mann passiert?“ Felix folgt ihrem Blick, packt Cara an beiden Schultern und dreht sie von dem Toten weg. „Sieh da nicht hin, das ist jetzt alles unwichtig Cara, wichtiger ist, hast du Paul gesehen?“ Die Sekretärin windet sich erst in Felix’ Armen, dann lässt sie ihre Augen von dem Körper ab und sieht in Felix’ dunkle Pupillen. „Paul Barens, ja, ja, den habe ich gesehen, er ist den Flur runtergerannt, er wollte nachsehen, ob da noch jemand ist. Er hat mich rausgeschickt, um den anderen Bescheid zu sagen. Oh Felix, er hat so seltsame Dinge zu mir gesagt.“ Dicke Tränen rollen ihr über das rundliche Gesicht. „Ich glaube, er hat mir mein Leben gerettet.“ Felix’ Hand fliegt vor seinen Mund, er dreht sich einmal um die eigene Achse und reißt sich wieder zusammen. „Okay Cara. Du und …“ Fragend betrachtet er die Frau neben ihm. „Fiona“, entgegnet sie ihm mit einem Augenrollen. „Okay, du und Fiona werdet diesen Ort nun schnellstmöglich verlassen.“ Die Sekretärin wimmert. „Nein, nein Felix, das kann ich nicht, du musst uns helfen.“ Felix packt sie fester an den Schultern und gibt seiner Stimme einen festen, bestimmten Klang. „Doch Cara, das kannst du. Hast du mich verstanden?“ Die Schultern der Frau hören auf zu beben, mit ihrem Arm wischt sie sich die Tränen vom Gesicht, nimmt Felix das Handy aus der Hand und nickt einige Male, so, als müsste sie sich selbst noch von dem Plan überzeugen. „Es ist ja wohl hinfällig dich nach deinem Plan zu fragen. Aber Felix, versprich mir eins.“ Ein wütender Zeigefinger schwebt vor seinem Gesicht. „Bring Paul ja lebend zurück.“ Dann lässt sie von ihm ab, schiebt sich das Handy zwischen die Zähne, packt kraftvoll nach den Beinen des Toten und deutet Fiona an, es ihr gleich zu tun. Fiona nickt Felix noch einmal zu, schiebt die Hände unter die Schultern der Leiche und die beiden verschwinden in der Dunkelheit.
Die Zerstörung, die durch das Einbrechen des oberen Flurs entstanden ist, hat ein weitaus größeres Ausmaß, als Felix es zunächst angenommen hat. An vielen Stellen sind die Flammen durch die Wucht der Erschütterung und des Einknickens der Trägerbalken ausgedrückt worden, an anderen Stellen haben die Flammen durch das neu errungene Brennmaterial aber angefangen sich immer weiter aufzubäumen und an manchen Stellen lecken sie bereits an der Decke und zwingen Felix in die Knie. Manchmal will er aufgeben, will umkehren, weil die Luft zu heiß, die Flammen zu groß oder der Weg versperrt ist. Jedoch jedes Mal, wenn Felix sich einreden will, dass es okay ist umzukehren, dass er alles in seiner Macht Stehende getan hat, dass er hilflos ist gegenüber den Bergen aus Schutt, die sich im gesamten Flur erstrecken, jedes Mal hört er dann ein Knacken, ein Säuseln oder ein Brodeln, was ihn weitersuchen lässt, das ihm die Kraft gibt einen weiteres Trümmerteil hochzustemmen oder durch die nächste Flammenwand zu springen. Immer wieder ruft er den Namen seines Freundes in die Dunkelheit hinein, schreit die Flammen an, die versuchen an ihm zu züngeln, bis seine Kehle heiser ist, bis er kaum noch einen Ton über seine Lippen bringen kann. Doch egal wo er sucht und egal wie laut er schreit, nirgendwo erscheint ein Lebenszeichen. Hier ist niemand. Langsam tropft die Erkenntnis in Felix’ erschöpfen Körper. Hier ist niemand mehr; selbst wenn es hier jemanden gegeben hat, kann er dem Einsturz der Decke, den tonnenschweren Stahlträgern und Betonteilen, den lodernd heißen Flammen und der brennenden, rußigen Luft kaum lebend entkommen sein. Erschöpft lässt er sich auf einen Holzbalken fallen, der zwischen zwei Türrahmen klemmt. Er reibt sich die trockenen Augen und wischt sich mit dem schweißnassen Ärmel seines Overalls den Ruß aus dem Gesicht. „Er ist tot“, flüstert er in die Dunkelheit des Flurs hinein. In der Ferne kann er das Knacken des Feuers hören. „Er ist tot“, ruft er ein wenig lauter, doch seine Stimme kann sich über die Lautstärke der Flammen nicht erheben. Er ruft es wieder und wieder, aber es scheint, als würden die Flammen jedes Mal lauter knacken, wenn er seine Stimme erhebt, fast so, als wollten sie nicht, dass dieser Satz die Mauern der Fabrik verlässt.
Nach einer Weile erhebt er sich, streift sich mit den Händen über seine Oberschenkel, ballt die Hände zu Fäusten, um sich zu fassen und will gerade den Weg raus aus der Hölle suchen, als er mit seinen Schuhen auf etwas Weiches tritt. Erschrocken fährt er zurück, stolpert über den Holzbalken und fällt rücklings über ihn hinweg. Für einen Moment rotieren seine Gedanken. Was war das? Wahrscheinlich nur ein Schwamm oder ein Poliertuch aus der Lackiererei oder es könnte ... Felix rappelt sich wieder auf, krabbelt auf allen Vieren über den Holzbalken und tastet in der Dunkelheit nach der Stelle, an der sein Fuß zuvor gestanden hat. Seine Finger ertasten den weichen Gegenstand, es kostet ihn viel Überwindung das raue, warme Stück abzutasten, doch als er begreift, was seine Finger da gefunden haben, fährt ihm ein Schauer durch den ganzen Körper. „Paul, Paul, Paul bist du das?“ Keine Antwort. Ohne sich davon beirren zu lassen, springt Felix auf, reißt einen großen Holzspalt aus dem Balken, auf dem er zuvor gesessen hat, und rennt, so schnell es die Umstände zulassen, den Flur zurück, den Flammen entgegen. Hustend und würgend erreicht er das Feuer und schaudert bei dem Anblick. Die Flammen haben sich viel weiter vorgearbeitet und lassen den Flur zu einem Flammenmeer werden. Felix schüttelt den Kopf – egal, dies war ein Problem, das er später lösen muss. Hektisch hält er den Holzspalt in die Flammen, die auch sogleich gierig an ihm lecken. Mit dem brennenden Spalt rennt er zu der Stelle zurück, an der er seine Entdeckung gemacht hat. Das Licht der improvisierten Fackel zeichnet gespenstische Schatten an die schwarzen Wände. Am Holzbalken angekommen rammt er die Fackel in den Schutt und beugt sich zu der weichen Entdeckung herunter. Felix fixiert mit seinen Augen die Hand, die vor ihm liegt. Nervös fingert er nach dem Puls. Bubum, bubum, bubum. Er ist sehr schwach, aber dennoch spürbar. Die Hand ist riesig, keine Frage, das kann kein anderer sein. Im Licht der Flammen erkennt er nach und nach den Rest seines Freundes. Er liegt mit dem Gesicht nach unten, bäuchlings auf dem Boden, seine Arme hat er von sich gestreckt. Nach der ersten Erleichterung, seinen Freund doch noch lebend gefunden zu haben, erblickt Felix schon die nächste Hürde, die vor ihm liegt. Vorsichtig tastet er den großen Holzbalken ab, der quer über seinem Freund liegt. Er ist groß und wuchtig, viel zu wuchtig, als dass Felix ihn ohne Hilfe heben könnte. Eine brodelnde Hitze steigt in ihm auf, sie macht sich in seinem Brustkorb breit und steigt seine Kehle nach oben, bis hin zu seinem Kopf. Felix drückt seine Handflächen gegen die Schläfen, er drückt so fest er kann, um seinem Kopf Ruhe zu gebieten, aber das laute Pochen, die Hitze und das Gefühl sein Schädel könne bersten, lassen ihm keine Ruhe. Was soll er nur tun? Es scheint auf einmal weitaus schlimmer zu sein, seinen Freund zwar gefunden zu haben, ihn dann aber lebend zurücklassen zu müssen, als ihn einfach nie zu finden.
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