Dass hier auch Mädchen aus Heimen involviert waren oder nach einem Aufgreifen dorthin gebracht wurden, ist wahrscheinlich. Zumindest galten die als „verwahrlost“ geltenden Mädchen in den Heimen als vergnügungssüchtig und sexuell enthemmt. Daher gehörten in den Mädchenheimen nicht erst seit Kriegsende, sondern bereits zuvor gynäkologische Untersuchungen zur Feststellung von Geschlechtskrankheiten zum Aufnahmeprozedere. So berichtete eine im Jahr 1942 15-Jährige im Mädchenheim Schwanenwik, dass sie in das Arztzimmer geleitet wurde, in dem sich die Heimleiterin, eine Krankenschwester und ein Arzt befanden, der unter seinem Kittel Uniform trug. „Und dann ging’s auf den Tiroler“, den gynäkologischen Untersuchungsstuhl, auf dem das Mädchen einer schmerzhaften Untersuchung unterzogen wurde.{198}
„Es gibt keine verlorene Generation“. Mit diesen Worten beginnt der Rückblick des Senats auf die „Arbeit für die Jugend“ seit dem Kriegsende bis 1949. „Das natürliche Grundelement des Jugendlebens ist immer wieder das der Hoffnung“, denn dem jungen Menschen bleibe „immer die Möglichkeit, doch die Zukunft und die ganze Welt zu gewinnen.“{199} Pathetische Worte, die angesichts der „Jugendnot“ auch nötig waren, um die Kraft für die Bewältigung dieser Krise aufzubringen: „Politischer Zerfall und Auflösung der wirtschaftlichen Ordnung, Ernährungsschwierigkeiten, Elternlosigkeit und Verlust der Heimat brachten viele Tausende von Jugendlichen in eine Lage, der sie seelisch nicht gewachsen waren.“{200} Die Versorgung junger Menschen, aber auch die Förderung ihrer Erziehung innerhalb und außerhalb der Familie waren die Schwerpunkte der Jugendpolitik in der Nachkriegszeit.
„Nach der Kapitulation strömten Massen flüchtender, vertriebener Jugendlicher aus dem Osten in die Westzone ein. (…) An einer einzigen Auffangstelle in Hamburg zählte man monatlich viele Hunderte“, berichtete der Senat.{201} Die Jugendbehörde errichtete Durchgangslager, in denen die jungen Menschen versorgt und die Rückkehr zu den Eltern, Verwandten oder ihrem Heimatort organisiert wurde. Sie schuf auch „Jugendwohnheime für heimat-, eltern- und obdachlose Jugendliche“. 1945 gab es bereits 13 Heime, 1949 dann 18 mit 949 Plätzen. „Auch in zahlreichen Erziehungsheimen mussten Durchgangsgruppen gebildet werden, die monatlich 80-120 Kinder aufnahmen.“{202}
Die Erziehungs- bzw. „Jugendamtsheime“ sahen sich nach dem Zusammenbruch mit einem Neuanfang konfrontiert. Bei Kriegsende gab es elf Erziehungsheime, neun wurden in kurzer Zeit neu geschaffen, so dass der Bestand 1949 bei 20 lag. Die materielle Not machte in diesen Jahren vor ihren Türen nicht Halt. Personal fehlte für die große Zahl an zu betreuenden Kindern und Jugendlichen. Konzeptionell bestand erneut die Erwartung, „den früheren Charakter der Fürsorgeanstalt“ zu überwinden{203}.
Einen Einblick in den Heimalltag jener Zeit gewähren die Aufzeichnungen aus dem Jugendheim Gojenberg im Südosten Hamburgs. Die Einrichtung war 1939 als Erziehungsheim für „schwierige, aber erbwertige Kleinkinder und kleinere Schulkinder“ klassifiziert worden. Sie befand sich in der Hitlerstraße 104 in Hamburg-Bergedorf.{204} Während des Krieges wurde das Heim mit seinen Kindern nach Thüringen verlegt. Die Heimleiterin, Hertha Schulze, die bis zu seiner Schließung das Kinderheim „Seestern“ in Grömitz geleitet hatte, begleitete die Kinder zunächst in das thüringische Heim, dann im März 1945 nach Niendorf an der Ostsee und von dort Ende Mai nach Hamburg zurück. Das Gebäude war allerdings noch bis zum Sommer 1945 von einem Säuglingsheim in Beschlag genommen, so dass die Kinder und das Personal zunächst an unterschiedlichen Orten untergebracht wurden und das Heim erst im Juli seine Arbeit wieder aufnehmen konnte. „Die wirtschaftlichen Sorgen waren nicht gering“, erinnerte sich die Heimleiterin im Oktober 1945 in einem rückblickenden Bericht.{205} Die Lebensmittelreserven waren verschwunden, „Feuerung zum Kochen war nicht vorhanden“, „es fehlt an warmer Bekleidung“ und „das Schuhzeug ist trostlos.“ Auch die Kinder helfen mit, Holz zu sammeln, das aber vermutlich nur zum Kochen und nicht für das Heizen im bevorstehenden Winter ausreichen würde. „Durch Aussaat von Salat, Mangold und Bohnen konnten wir die spärlichen Erträgnisse des Gartens etwas verbessern.“ Trotz der schwierigen Versorgungslage war der Gesundheitszustand der Kinder „bisher recht gut“. Das Haus war im Oktober 1945 mit 114 statt 85 Kindern überbelegt. Zu ihnen gehörten 15 Kleinkinder, je 45 Schuljungen und ‑mädchen sowie 9 jugendliche Mädchen. Der Schulunterricht wurde im Heim abgehalten, weil die öffentlichen Schulen „mit dem augenblicklichen Kindermaterial“ nicht belastet werden könnten. Die Zusammensetzung der Kinder im Heim entspreche einem „rechten Durcheinander von Typen“. Dies sei dem starken Zustrom an Kindern geschuldet, die in einem Heim unterzubringen seien. „Erschütternd ist die Unehrlichkeit und Unaufrichtigkeit unter den Kindern“, stellte die Heimleiterin fest. Der ausführliche Bericht endete mit der Feststellung, dass Personal fehle, es aber dennoch in der Belegschaft „selbstlose Einsatzbereitschaft“ gebe, um die „Nöte der Zeit zu [be]zwingen.“
Der Bericht geht auf eine Aufforderung des für die Heime zuständigen Verwaltungsbeamten Röbiger zurück. Er hatte am 1. Oktober 1945 die Anweisung des Erstens Bürgermeisters Petersen weitergegeben, dass „von allen Ämtern und Behörden Tätigkeitsberichte für jeden Monat“ vorzulegen seien: „Bitte nicht schimpfen, der Bürgermeister hat befohlen!“, gab er die Berichtspflicht weiter. Im Zuge dieser Aufforderung erbat Röbiger auch Ausführungen zu einem besonderen Thema: „Interessieren würde mich – vom Standpunkte der Jugendpsychologie – wie Kinder und Jugendliche seelisch auf den Zusammenbruch des NSDAP-Regimes reagierten. Oder war das Gefühl, daß ‚endlich der Krieg aus war‘ so dominierend, daß andere Empfindungen dadurch verdrängt wurden?“{206}
Die Heimleiterin Schulze versuchte hierzu eine Einschätzung zu geben. Die Kinder seien stark durch die Umgebungswechsel geprägt, berichtete sie{207}. Manche seien auf den Zusammenbruch innerlich vorbereitet gewesen, andere scheinen sich betrogen zu fühlen und zeigten Misstrauen gegenüber den Erwachsenen. „Einige Jungen haben sich mit Bravour darangemacht, alles ‚Nazimässige‘ zu suchen und es dem Untergang zu weihen.“ Allerdings stehe keine Einsicht dahinter, sondern nur das Neue der Zeit, das alle Jugendgenerationen jeweils bestimmen würde. Die jugendlichen Mädchen seien ganz „im Sinne der H.J. erzogen worden“. Sie äußerten sich wenig, weil sie bei Erwachsenen ohnehin auf eine andere Meinung stoßen würden. So sei es erforderlich, „in geschickter pädagogischer Führung diese Menschenkinder zur Kritik und über die Kritik zur Einsicht zu erziehen.“ Die Kinder würden eine Reaktion auf das Geschehene nicht unbedingt zur Schau tragen. Allerdings müsse man sich auch davor hüten, zu viel in die Kinder „hineinzusehen“. Sie schloss den Bericht mit der Einschätzung ab: „So sehr ich versucht habe zu ergründen, wie die Kinder auf den Zusammenbruch wirklich reagieren, so bin ich zu keinem klaren Bild gekommen.“
Auch im Mädchenheim Feuerbergstraße herrschte materielle Not. Brennmaterial fehlte, die Ernährung war unzureichend. Die Mädchen dachten dauernd ans Essen, waren aber auch durch abenteuerliche Geschichten aus der Stadt und über die britische Besatzung aufgeregt. „Auch sonst ist die Steigerung des Genussbetriebes deutlich – möchten wieder tanzen, ausgehen, Kino, Schokolade, Bekanntschaften mit Engländern, um Vorteile zu haben“, berichtete die Heimleiterin Cornils.{208}
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