Der im April 1938 geborene Junge Alfred Rahnert{161} wurde wenige Wochen nach seiner Geburt im städtischen Kinderheim im Eißendorfer Pferdeweg aufgenommen. Seine Mutter war nach der Geburt gestorben und sein Vater, der mit Alfreds Mutter eine außereheliche Beziehung unterhalten hatte, wandte sich von dem Kind ab. Er hatte vier Kinder aus seiner Ehe und war mit seinem eigenen Leben schon überfordert. Er litt unter Lähmungen, aus denen die Ärzte für Alfred eine erbliche Vorbelastung ableiteten. Das Baby wuchs im Kinderheim auf. In der damaligen Zeit war man noch der Überzeugung, dass Babys und Kleinkinder vor allem gepflegt werden müssten und keiner weiteren Ansprache bedurften. Im November 1939 fielen dem Heimarzt Dr. Gräfe dann Alfreds Entwicklungsverzögerungen auf. „Er konnte weder sitzen noch sprechen, musste gefüttert werden und war kaum ansprechbar.“ Da Alfred keine „Schwierigkeiten“ bereitete, wurde er im Heim belassen. Ein halbes Jahr später wurde Alfred erneut durch Gräfe untersucht. Er kam nun zu der Feststellung, dass Alfred „seiner Unterwertigkeit wegen und im Interesse der Betreuung der gesunden Kinder nicht tragbar“ und nicht erziehungsfähig sei. Damit hatte er das Kind aufgegeben. Er empfahl die Unterbringung in den Alsterdorfer Anstalten, in die Alfred im Juni 1940 verlegt wurde. In der Eingangsuntersuchung wurde bei Alfred „Debilität“ und später „Imbezillität“ diagnostiziert. Als nach den Bombennächten im Juli 1943 die Anstalten geräumt wurden, gehörte Alfred zu den 52 Jungen, die in die Heil- und Pflegestation Kalmenhof verlegt wurden. In der dortigen Kinderfachabteilung wurde er am 11. November 1943 ermordet.
Widerständige Jugendliche waren ebenfalls Ziel der Aussonderung. In einer Beiratssitzung der Sozialverwaltung vom 6. Februar 1941 führte der Leiter des Landesjugendamtes, Prellwitz, aus, dass „in der Betreuung der nicht besserungsfähigen Jugendlichen seit Jahren eine Lücke klaffte.“{162} Er meinte Jugendliche, die polizeilich auffällig wurden oder sich in den Heimen durch Aufsässigkeit zeigten und als „Unansprechbare“ bezeichnet wurden, die „mit den Mitteln des Jugendamtes nicht zu beeinflussen“{163} waren. Zu dieser Gruppe von Jugendlichen gehörten auch solche, die bereits in den Vorkriegsjahren der nationalsozialistischen Vereinnahmung im Alltag eigene Lebensäußerungen entgegen gesetzt hatten: die aus gutbürgerlichen Kreisen stammende Hamburger Swing-Jugend, die sich in Clubs zu Musikveranstaltungen traf und sich öffentlich oppositionell zeigte. Drohungen mit Zwangserziehung, Folter bei polizeilichen Verhören oder gar Inhaftierungen in der Haftanstalt Fuhlsbüttel oder dem Arbeitslager Farmsen blieben ohne abschreckende Wirkung.{164} Mit dem fortschreitenden Zerfall des Alltagslebens der Familien im Bombenkrieg tummelten sich auch mehr und mehr Jugendliche anderer Milieus auf der Straße und in den Ruinen und entzogen sich der nationalsozialistischen Einvernahme.
Vor diesen jungen Menschen musste die „Gemeinschaft in irgendeiner Form“{165} geschützt werden. Und hierfür hatte die Polizei endlich eine Lösung gefunden, die so genannten Jugendschutzlager für Jugendliche im Alter von 13 bis 22 Jahren, die wie ein Konzentrationslager funktionierten. Ab August 1941 fanden erste Einweisungen aus allen Bereichen des Reiches und auch aus besetzten Gebieten in das für männliche Jugendliche vorgesehene Jugend-KZ im niedersächsischen Moringen statt. An diesem Ort war im 19. Jahrhundert ein Werkhaus gegründet worden. Es diente neben dem Werkhausbetrieb im Jahr 1933 für kurze Zeit als Männer-KZ, danach von 1933 bis 1938 als Frauen-KZ und ab 1940 als Jugend-KZ.{166} 1942 wurde das Lager Uckermark für weibliche Jugendliche gegründet. In diesen „Jugendschutzlagern“ landeten die „asozialen“ und „kriminellen“ Jugendlichen, die als unerziehbar galten oder aus anderen Gründen wie Homosexualität oder ihrer Religionszugehörigkeit in der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft keinen Platz haben durften. Das Jugend-KZ war neben den Pflegeanstalten eine weitere Möglichkeit, die Erziehungsheime zu entlasten, wie Prellwitz 1941 ausführte: „Die Landesjugendämter begrüssen diese Einrichtung, die die Fürsorgeerziehung von mancher nicht erfreulichen Belastung befreit.“{167} Die inhaftierten, jungen Menschen waren einem brutalen Regiment mit Misshandlungen ausgesetzt: Essensentzug, Strafstehen, Bunkerarrest, Stockhiebe und Strafexerzieren. In der angeschlossenen Munitionsfabrik wurden sie zur Arbeit gezwungen. Sie waren außerdem Objekt rassenbiologischer Untersuchungen zum Zweck der Forschung, aber auch zum Zweck der weiteren Selektion, Entscheidung über Zwangssterilisation und Überstellung zum Beispiel in Anstalten mit Tötungsauftrag. Das Jugend-KZ wurde bis Kriegsende betrieben, dann mit einem Gewaltmarsch evakuiert. Die Kranken und Schwachen blieben allerdings im Lager zurück und waren ihrem Schicksal hilflos ausgeliefert. {168}
Bereits neun Monate nach Kriegsbeginn im September 1939 begannen erste Luftangriffe der Alliierten auf Hamburg. Am 18. Mai 1940, kurz nach Mitternacht, warfen die Flugzeuge der britischen Royal Air Force (RAF) die ersten Spreng- und Brandbomben auf Industrieanlagen in Harburg ab. Das eigentliche Ziel war jedoch die Werft Blohm & Voss. Das Bombardement konnte, wie sich auch in den folgenden Angriffen zeigte, nicht zielgenau ausgeführt werden. Und somit wurden auch auf der Anflugroute von Nordwesten her Bomben abgeworfen, die einzelne Gebäude in Eimsbüttel trafen. 34 Menschen ließen in dieser Nacht ihr Leben, darunter auch ein Kind.{169}
Von den 212 folgenden Luftangriffen brannten sich jene des Unternehmens „Gomorrha“ im Jahr 1943 in die Geschichte der Stadt ein. Die Angriffe dienten nicht mehr nur der Ausschaltung von kriegswichtigen Industrieanlagen, sondern auch der Demoralisierung der Bevölkerung. Am Sonntag, dem 25. Juli 1943, wieder kurz nach Mitternacht, flogen fast 800 Flugzeuge von Nordwesten her auf die Stadt zu und zerstörten Eimsbüttel, Altona, Teile des Hafens und verstreut auch andere Stadtteile. Auch die Nikolaikirche in der Innenstadt wurde getroffen. Sie wurde nie wiederaufgebaut; die Ruine ist heute ein Mahnmal. Es folgten noch am Sonntag und dann am Montag Tagesangriffe. Noch verheerender war der Angriff am Mittwoch, den 28. Juli, um Mitternacht. Ziel war diesmal das Gebiet südöstlich der Alster zwischen Hammerbrook und Uhlenhorst. Dieser Angriff löste den „Feuersturm“ aus, der mit dem durch Wind angefachten Feuer nach dem Bombardement die Verwüstung weiter vorantrieb. Ein weiterer Angriff am 30. Juli legte Barmbek in Schutt und Asche. In der Nacht zum 3. August flogen 740 Flugzeuge Hamburg an und starteten den letzten Angriff der Operation „Gomorrha“. Hamburg lag unter einer dichten Wolkendecke, so dass die Bombenlast verstreut über dem Stadtgebiet abgeworfen wurde und größtenteils bereits zerstörte Gebiete traf.{170}
Nach der schrecklichen Feuersturm-Nacht verließen etwa eine Million Menschen die Stadt. Die Vorbereitungen auf die katastrophale Zerstörung waren ungenügend, die Evakuierung daher chaotisch, wie Jörg Friedrich in seiner Darstellung über den Bombenkrieg beschreibt: „Langes Warten auf Verkehrsmittel ließ die Flüchtigen in die Wälder wandern, im Freien übernachten. In den Landgemeinden, die sie passierten, wirkte ihr Anblick erschütternd. Manche im Trainingsanzug, einige barfuß in Hemd und Schlüpfer.“{171} Mit 625 Zügen transportierte die Reichsbahn rund 787 Tausend Menschen aus der Stadt. Auf Elbschiffen verließen 50 Tausend Einwohner ihre Heimat.{172}
Zuvor waren bereits unter 14jährige Kinder in Klassenverbänden in Landheimen untergebracht worden. Von dieser Aktion wurden jedoch nicht alle Kinder erfasst; es waren zu viele. Eltern versuchten daher, ihre Kinder selbst bei Verwandten auf dem Land in Sicherheit zu bringen. Die Kinderlandverschickung des Regimes war außerdem nicht populär, denn die Zielorte waren weit weg, Eltern und Kinder litten unter der Trennung und sie bedeutete eine weitere Beeinflussung der Kinder durch das Regime.{173} Auch einzelne Jugendheime zogen aus Hamburg in Landgebiete um. Andere, wie das Mädchenheim Schwanenwik in Uhlenhorst, blieben weiterhin in Betrieb.
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