Neuanfang? Zurück in die 1920er
Das nationalsozialistische Regime war beendet. Doch wie mit der Schreckensherrschaft umgehen, Täter identifizieren und verfolgen und Opfer entschädigen und rehabilitieren, wenn doch die Mehrheit der Bevölkerung Mittäter oder „Mitläufer“ waren? Wie das Chaos und Elend bewältigen? Wie einen Wiederaufbau in Gang setzen?
Die Antwort auf diese Fragen musste der britische Stadtkommandant, Harry W.H. Armytage, beantworten. Um die dringendste Not zu lindern, bedurfte es einer Zivilverwaltung mit unbelasteten und kooperativen Personen. In einem ersten Schritt setzte der Stadtkommandant den 1878 geborenen Kaufmann Rudolf Petersen als Ersten Bürgermeister ein. Er war der Militärregierung unmittelbar unterstellt und hatte die Aufgabe, mit anderen Fachleuten die Zivilverwaltung zu leiten.
Petersen schien in diesem Moment für diese Position besonders geeignet, weil er aus einer traditionsreichen, gut situierten Hamburger Familie stammte und im Dritten Reich keine Position im nationalsozialistischen Regime bekleidet hatte. Er war aber kein so begabter Politiker wie sein älterer Bruder, Carl Wilhelm, der in den zwanziger Jahren und zuletzt von 1932 bis 1933 das Amt des Ersten Bürgermeisters von Hamburg innehatte. Der parteilose Rudolf war dagegen politisch unerfahren und stand der Aufgabe zunächst auch skeptisch gegenüber. Als Hamburger Unternehmer stellte er sich in die Tradition der hanseatischen Kaufleute, der Elite der Stadt seit Jahrhunderten. Für ihn hing das Wohlergehen der Stadt von der Kraft der Wirtschaft und vor allem vom Außenhandel ab. Als unbelastetes, parteiloses Mitglied der gesellschaftlichen Oberschicht der Stadt bot er sich im Mai 1945 für die Briten als Bürgermeister an. Dass er den Nationalsozialismus als einen „Betriebsunfall“ der deutschen Geschichte und als ein Schicksal, das über das deutsche Volk hereingebrochen sei, bezeichnete, zeigte seine politische Naivität. Es ist ihm allerdings anzurechnen, dass er sich der Aufgabe stellte und sein Amt bis zur Wahl der ersten Bürgschaft und eines neuen Senats im November 1946 ausübte.{191}
Zu den Fachleuten, die Petersen mit Billigung der Briten um sich scharte, gehörte zunächst auch Senator Oscar Martini, der seit 1920 und später auch im nationalsozialistischen Hamburg für das Wohlfahrtswesen zuständig war. Er wurde 1937 Parteimitglied der NSDAP und bekannte sich zur ausgrenzenden NS-Sozialpolitik, die auch die Euthanasie beinhaltete. Er wurde erst Ende 1945 von der britischen Militärregierung seines Amtes enthoben. Bereits am 20. Juni 1945 wurde Friedrich Ofterdinger entlassen und interniert. Er starb kurze Zeit später in der Haft. Er war im nationalsozialistischen Hamburg Generalkommissar für das Gesundheitswesen und oberster Organisator der Krankenmorde. Dagegen gab es auch neues Personal, das für die Bewältigung der Krise und einen Neuanfang erforderlich war. Zu den für die Jugendhilfe maßgeblichen Personen gehörte Heinrich Eisenbarth. Der Sozialdemokrat war bereits von 1925 bis 1933 Senator der Jugendbehörde und später zusätzlich der Sozialbehörde und wurde am 15. Mai 1945 erneut in dieses Amt berufen. Er gehörte dem Senat bis zu seinem Tod im Jahr 1950 an. Er übertrug Hermine Albers die Leitung des Landesjugendamtes. Die 1894 geborene Sozialwissenschaftlerin wurde 1928 für den Aufbau einer behördenübergreifenden Familienfürsorge in die Hamburger Sozialverwaltung berufen. Als sozialdemokratische Reformerin wurde sie 1933 aus dem öffentlichen Dienst entlassen und überstand als Wirtschaftsprüferin und Treuhänderin die Zeit bis zum Kriegsende. Sie arbeitete nicht nur in Hamburg mit großem Engagement an einem Wiederaufbau, sondern wirkte auch bundesweit am Aufbau der Bundesarbeitsgemeinschaft der Landesjugendämter und der 1949 gegründeten „Arbeitsgemeinschaft für Jugendpflege und Jugendfürsorge“ mit. Als Mitherausgeberin der Fachzeitschrift „Unsere Jugend“ beeinflusste sie den Diskurs über die Fortentwicklung der Jugendhilfe in der Nachkriegszeit.{192}
Unmittelbar nach Kriegsende stand zunächst die Aufgabe im Vordergrund, der Not in der städtischen und gesellschaftlichen Trümmerlandschaft zu begegnen. Die Briten hatten verständlicherweise wenig Mitleid mit den Deutschen. Für ihre Verwaltung und ihre Soldaten requirierten sie Wirtschaftsgebäude und auch Wohnraum. Ihre eigene Versorgung hatte Vorrang. Sie stellten sich aber auch der Aufgabe, die Menschen in der Stadt zu versorgen, auch wenn Großbritannien selbst Not litt und zeitweise Lebensmittel rationieren musste. Die Lebensmittelversorgung war trotz aller Bemühungen zwischen 1945 und 1947 immer wieder prekär. Die täglichen Rationen lagen mit 800 Kalorien unter dem als Minimum anerkannten Wert von 1500 Kalorien. Die Briten lieferten Wellblechhütten, die auf Trümmergrundstücken aufgestellt wurden. Im bitterkalten Winter 1946/47, in dem mehrere Kältewellen von minus 20 Grad die Stadt wochenlang erstarren ließen, schafften sie Brennstoff heran, damit die Strom – und Gasversorgung zumindest für wenige Stunden am Tag aufrechterhalten werden konnte.
Für alle britischen Militärangehörigen galt mit dem Einrücken in die Stadt ein striktes Fraternisierungsverbot. Kontakte waren nur aus dienstlichem Anlass erlaubt und standen im Übrigen unter Strafe. Die Soldaten verbrachten ihre Freizeit unter sich, in extra eingerichteten britischen Clubs, Lokalen und Theatern. Das britische und das deutsche Alltagsleben verliefen strikt getrennt. Zunächst jedenfalls, denn die britischen Soldaten vermochten es offenbar nicht, sich an das Verbot zu halten.{193} Da es zu Kontakten kam, vor allem auch zwischen Soldaten und den Hamburger Mädchen und Frauen, sah sich die britische Militärführung bereits im August gezwungen, das Verbot zu lockern. Man durfte sich auf Straßen und im öffentlichen Raum unterhalten. Faktisch war es aber Sex in Grünanlagen, wie die Polizei in einem Bericht festhielt: „Die Verbrüderung schreitet fort. Allerdings scheinen ‚Schwestern‘ gefragter zu sein als ‚Brüder‘. Hierbei entstehen Auswüchse, die sowohl im Interesse der deutschen als auch der britischen Verwaltung vermieden werden müssten. Auf Anlagen – mitten in der Stadt – wo noch dazu Schilder stehen mit der Aufschrift ‚betreten verboten‘ – liegen britische Soldaten und deutsche Mädchen in mehr als zweideutigen Situationen. (…) Immerhin muß man dabei geltend machen, daß es sich in erster Linie um sehr junge Mädchen handelt oder um solche, die hoffen, irgendetwas (Schokolade, Zigaretten usw.) von den Kavalieren zu erhalten.“{194} Viele Hamburger waren über diese Verhältnisse empört, behielten es aber weitgehend für sich. Aus den Kontakten entstanden Partnerschaften und Eheschließungen, uneheliche Kinder und Infektionen mit Geschlechtskrankheiten. Bereits kurz nach Kriegsende hat es in Hamburg Prostitution gegeben, und zwar nicht nur die professionelle, sondern auch die heimliche oder „Hungerprostitution“, die als Ursache für die Verbreitung von Geschlechtskrankheiten angesehen wurde. Die Behörden stellten fest, dass sich durch das „Fehlen familiärer und damit sittlicher Bindungen“ und aufgrund „des sinkenden Verantwortungsbewußtseins der Erwachsenen“ zahlreiche männliche Jugendliche auf dem Schwarzmarkt betätigten und nicht zur Arbeit gingen, und junge Mädchen in die heimliche Prostitution abglitten.{195} In einem Lagebericht der Polizei vom Juli 1945 heißt es dazu. „Die Gefahr der Verbreitung venerischer Krankheiten ist (…) durch den Zustrom weiterer Personen männlichen und weiblichen Geschlechts und den inzwischen ungebundenen Verkehr der Bevölkerung mit den Besatzungstruppen zu erwarten.“{196} Sowohl die Militärpolizei als auch die Hamburger Sittenpolizei griffen Frauen aus Bars und von der Straße auf, um sie zu untersuchen. Stellten sie sich als infiziert heraus, wurden sie in ein Krankenhaus zur Behandlung eingewiesen. Ein durchschlagender Erfolg war der Aktion nicht beschieden. Das offenbar rüde Vorgehen der Polizei geriet 1946 in die Kritik und veränderte das Vorgehen. „Durch die Initiative der Gesundheitsbehörde gelang es, anstelle der Razzien einen aus weiblichen und männlichen Fürsorgekräften bestehenden neuen Streifendienst einzusetzen“, berichtete der Senat rückblickend.{197} Er hatte auf der Grundlage eines von der Bürgerschaft beschlossenen Gesetzes umfassende Befugnisse zur Bekämpfung von Geschlechtskrankheiten. Neben der Zwangsbehandlung Infizierter betrieb die Behörde Aufklärung in der Öffentlichkeit, um die Unkenntnis vor Gefahren und über den eigenen Schutz zu überwinden. Die Razzien wurden im Spätherbst 1947 schließlich aufgegeben.
Читать дальше