„Das braucht Sie keinesfalls zu beunruhigen. Am wichtigsten ist, dass Sie wieder auf die Beine kommen. Alles andere wird sich ergeben.“
„Das sagen Sie so leicht.“
„Ich kann nicht leugnen, dass Sie etwas sehr schicksalhaftes erlebt haben, aber lassen Sie sich bitte nicht unterkriegen. Sie sind noch sehr jung und man weiss nie, was einem das Leben noch alles bringen kann.“
„Leider hat mir der Arzt keine so rosige Zukunft vorausgesagt.“
„Wenn Ihr Kinderwunsch so gross ist, können Sie sich immer noch überlegen, ob Sie allenfalls für eine Adoption fähig sind. Oder ob eine Leihmutter in Frage käme. Aber lassen Sie sich Zeit und verdauen Sie zuerst das, was Ihnen widerfahren ist.“
„Woher nehmen Sie bloss diese Zuversicht?“
„Mein Beruf lehrt es mich. Kommt Ihr Freund noch vorbei?“
„Ich habe keinen Freund.“
„Bin ich etwa schon wieder in ein Fettnäpfchen getreten?“ schuldbewusst schaut mich die Krankenschwester an.
„Ist schon gut. Es stimmte schon seit längerer Zeit nicht mehr zwischen uns. Nur will er es nicht wahrhaben.“ und ich schaue auf die vielen Rosensträusse, die anscheinend von ihm sind. Ich muss zugeben, dass er in diesem Fall Geschmack bewiesen hat. Nur ist das noch lange kein Grund, bei ihm zu bleiben.
„Eine weitere Patientin wartet auf mich. Sie drücken den Knopf, wenn irgendwas ist?“
Ich nicke nur mit dem Kopf. „Darf ich das Zimmer verlassen?“ Ich spüre plötzlich eine innere Unruhe und habe das Verlangen aus diesen vier Wänden zu kommen, in denen ich mich nun schon seit über vier Tagen befinde.
„Wenn Sie sich stark genug fühlen, dürfen Sie das gerne tun. Bitte teilen Sie jeweils mir oder einer anderen Krankenschwester mit, wenn Sie die Etage verlassen.“
„Ich brauche etwas Abwechslung. Wo befindet sich das Café?“
„Im Erdgeschoss. Warten Sie kurz. Ich bin gleich zurück.“
In der Zwischenzeit gehe ich kurz ins Bad und werfe einen Blick in den Spiegel. Mein geschwollenes Auge sieht nicht mehr so schlimm aus wie gestern, aber es ist immer noch ziemlich dick und der Bluterguss verfärbt sich ganz langsam gelblich. Meine Haare stehen wirr von meinem Kopf ab. Mit ein paar Bürstenstriche bringe ich es einigermassen in Ordnung. Nun noch ein Haargummi um meine langen, braunen Haare und ich sehe gleich etwas präsentabler aus.
Gerade als ich mich auf die Bettkante zurücksetzte, kommt die nette Krankenpflegerin mit einer Krücke in der Hand zu mir zurück. Ich erwarte sie bereits sitzend auf meinem Bett und starre sie entgeistert an. „Muss das sein?“
„Da Sie jetzt den Infusionsständer nicht mehr als Stütze haben, bleibt ihnen wohl nichts anderes übrig, als diese hier zu nehmen. Ich kann auch einen Rollstuhl besorgen, wenn Ihnen das lieber ist.“
Mir wird schnell klar, dass ich ohne diese Krücke nicht weit kommen werde. Wenn ich also mein Zimmer endlich mal verlassen möchte, habe ich keine andere Wahl, als diese Gehhilfe zu benützen. „Sie haben mich überredet.“ Ich schenke der Frau vor mir ein schwaches Lächeln, schnappe meine Handtasche, die sich im Beistelltisch befindet und folge mit vorsichtigen Schritten der Krankenschwester zum Aufzug.
„Kommen Sie alleine klar?“
„Ich denke schon.“ Die Pflegering verlässt mich, während ich auf den Lift warte und mich auf dem Flur umsehe. Ein langer nicht enden wollender Gang erstreckt sich vor mir und etliche Türen gehen davon ab. Ich vermute, dass hinter jeder dieser Tür mindestens eine Patientin liegt. Plötzlich frage ich mich, was diese Frauen wohl gerade durchmachen müssen. Haben Sie vielleicht ein ähnliches Schicksal wie ich zu verdauen? Mir wird es eng um die Brust, als ich mich wieder an meinen Verlust denken muss und bin froh, dass sich endlich die Aufzugtüren vor mir öffnen, damit niemand meine gläserne Augen sehen kann. So schnell es meine Kraft und mein Körper zulässt, gehe ich hinein und drücke auf den Knopf, der das Erdgeschoss anzeigt. Zum Glück habe ich mir noch schnell die Etage gemerkt, auf der sich mein Zimmer befindet. Wäre schön peinlich, wenn ich beim Empfang nach meinem Zimmer fragen müsste.
Unten angekommen sehe ich mich zuerst einmal in alle Richtungen um. In die eine Richtung sieht dieser Flur fast so aus, wie meiner. In die andere Richtung deutet ein Pfeil, der das Café und den Ausgang anzeigt, was ich auch am Ende des Ganges entdecke. Wie soll ich nur diesen weiten Weg schaffen? Meine Kraft droht mich jetzt schon zu verlassen. Langsam mache ich einen Schritt vor den Anderen und komme meinem Ziel immer näher.
Ich sehe einige leere Tische. Also gehe ich gleich zum Getränkeautomaten und suche mir etwas schmackhaftes aus. In meiner Tasche suche ich nach meinem Portemonnaie, um mir ein paar Münzen herauszunehmen, damit ich den Automaten damit füttern kann. Nur zu blöd, dass sich darin kein Kleingeld befindet. Bleibt mir wohl nichts anderes übrig als mich an der Theke bedienen zu lassen.
„Was darfs sein?“
„Ich möchte ein Rivella.“
„Gerne.“ Die Frau hinter der Kasse kommt sogleich mit einer Flasche Rivella und einem Glas zurück.
„Darfs sonst noch was sein?“
„Den Blick. Das wäre dann alles.“ Ich drücke ihr eine Zehnernote in die Hand und verstaue das Portemonnaie wieder in meiner Tasche.
„Ich bringe Ihnen die Sachen zum Tisch.“
„Oh. Vielen Dank.“
„Wo möchten Sie sitzen?“
Eigentlich habe ich gehofft, auf dem Gartensitzplatz sitzen zu können, um etwas frische Luft einatmen zu können. Aber da es aus allen Eimern zu regnen scheint, entschliesse ich mich im Innern zu bleiben. Also deute ich auf einen freien Tisch, der sich neben einem Fenster befindet. So kann ich wenigstens hinaussehen.
Endlich kann ich wieder sitzen. Diese wenigen Minuten, die ich auf den Beinen waren, kosteten mich mehr Kraft, als ich gedacht habe. Ich nehme einen kräftigen Schluck von meinem Rivella und schlage die Zeitung auf. Obwohl ich versuche mich auf den Text zu konzentrieren, schweifen meine Gedanken immer wieder zu meinem nicht vorhandenen Unfall zurück. Irgendwann bin ich soweit, dass ich es aufgebe und die Zeitung zur Seite lege. Stattdessen krame ich ein weiteres Mal in meiner Handtasche und nehme mein iPhone in die Hand.
Schockiert sehe ich eine ganze Menge ungelesener SMS. Während ich mich durch die Meldungen lese, bemerke ich, dass mich ein Mann, der mit einer Frau und zwei düster dreinblickenden Muskelprotz an einem Tisch sitzt, unverhohlen beobachtet. Unbeeindruckt tippe ich mich durch die Nachrichten. Die meisten sind gute Genesungswünsche. Sogar mein Chef hat sich gestern gemeldet. Es sind nur noch drei ungelesene Nachrichten. Die drittletzte ist von Pam. Bin nun unterwegs zu dir. Die zweitletzte von Janosch. Hai Sista. Morgen um ein Uhr bei dir. In Ordnung? Ach ja, wir waren ja am Samstag zum shoppen verabredet. Mein Bruder braucht wieder einmal eine Beratung beim Kleider kaufen.
Nun noch die Letzte und Älteste. Sorry Zoe, aber es wird etwas später. Ich mache so schnell ich kann. Jetzt hast du wenigstens noch Zeit deine Lieblingsserie anzusehen. Bis später. Pam.
Müde schaue von meinem iPhone auf und blicke aus dem Fenster. Irgendwann fangen meine Gedanken an, sich zu überschlagen. Irgendwas erscheint mir merkwürdig an Pams SMS. Ich lese es ein drittes und viertes Mal durch. Plötzlich klingelt es in meinem Kopf und ich weiss, was mich an der Nachricht stört. Wann hat mir Pam gesimst? Ich schaue auf die Uhrzeit. Sie hat mir kurz nach halb sieben geschrieben. Aber um diese Zeit war sie doch schon lange bei mir? Ich bin mir fast sicher, dass ich auf meine Uhr sah, bevor ich zur Tür ging. Und diese zeigte knapp nach sechs an.
Ich schliesse meine Augen, um meine Gedanken so besser festhalten zu können und um sie neu zu ordnen. Das Bild steigt mir vor das innere Auge, wie ich mich in mein Lieblingsoutfit schäle und aufsehe, als es klingelt. Ich sehe, wie ich die Treppe hinuntergehe und mit leichtem Schritt zur Tür gehe und sie öffne.
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