Wenn die Krankenschwester wüsste, was mich in Wirklichkeit belastet, würde Sie nicht mehr so unbeschwert reagieren. Warum erzähle ich eigentlich niemandem die Wahrheit darüber, was Noah mir angetan hat? Schäme ich mich dafür? Oder habe ich Angst davor, dass er nochmals auf mich losgehen könnte?
„Sie haben bestimmt recht.“ Ich möchte, dass sie mich alleine lässt und schaue sie eindringlich an. Ich sehe ihr nach, wie sie mit schnellen Schritten aus dem Zimmer schreitet, wobei ich ihre schwarzen Haare, die zu einem Pferdeschwanz zusammen gebunden waren, hin und her wippen sehe. Gleich darauf kehrt sie mit meinem Essen zurück und verabschiedet sich mit wenigen Worten.
Ich sitze am Tisch und stochere lustlos in meinem Teller herum. Wenngleich mein Magen zu rebellieren versucht, bringe ich keinen Bissen herunter.
Die Faust, die sich um mein Herz gelegt hat, drückt immer mehr zu. Mich ergreift das Gefühl, als würde mir das Leben herausgerissen. Ich möchte nicht ständig an das Unglück denken, das mir widerfahren ist. Wann kann ich endlich wieder ein ungetrübtes Leben führen?
Mit dreissig habe ich mein Leben wahrlich anders vorgestellt. Ich dachte einst, bis dahin wäre ich verheiratet und hätte Kinder. Kein bisschen ist von all dem in Erfüllung gegangen. Wenigstens habe ich einen Beruf, den ich liebend gerne ausübe. Nun bleibt mir wohl nichts anderes übrig, als mich meinem Job voll und ganz hinzugeben. Etwas anderes wird es für mich nicht mehr geben. Bei diesem Gedanken kullern mir schon wieder Tränen über meine Wangen. Ich bin über mich selbst enttäuscht, wie ich in so einer kurzen Zeit ein völliges Frack werden konnte. Ich war immer gut gelaunt und hatte ein enormes Selbstwertgefühl. Wo ist all das hin? Ich spüre von all dem nichts mehr in mir. Ich habe keinen Grund fröhlich oder glücklich zu sein. Wenn jemand etwas zu laut mit mir spricht, zucke ich gleich zusammen und bebe vor Angst. Kein Stolz, keine Würde scheint geblieben zu sein.
Einen Blick aus dem Fenster zeigt mir, dass sich immerhin das Wetter aufgehellt.
Ich muss eingeschlafen sein, denn draussen scheint die Sonne und blendet mich mit ihren hellen Strahlen. Sofort beschliesse ich ein wenig in den Krankenhauspark zu gehen. Ich wackle ins Bad und putze mir kurz die Zähne. Gerade als ich mein Buch in meine Handtasche packen möchte, klopft es an die Tür, woraufhin sie vorsichtig geöffnet wird.
„Ich habe gehofft, Sie hier anzutreffen.“
Diesen Besuch hätte ich nie im Leben erwartet. Ich schnappe nach Luft und gaffe, etwas aus der Fassung gebracht, zu ihm hinüber. Alexander steht an den Türrahmen gelehnt da und sieht mich mit seinem anziehendem Lächeln, das seine makellosen Zähne freigibt, an. Ich bin zu keiner Erwiderung fähig und starre weiterhin wortlos in seine Augen.
„Ich möchte nicht aufdringlich sein, aber möchten Sie mit mir in den Park gehen?“
Eigentlich wollte ich alleine sein. Mich meinen wirren Gedanken und Gefühlen hingeben. Jedoch habe ich das mittlerweile genug getan, oder? Schon seit mehreren Tagen liege ich nun in diesem Krankenhaus und hatte reichlich Zeit, um all das was geschehen ist, zu verdauen. Ein wenig Ablenkung und dann noch mit so einem charmantem Typen, wie Alexander, zusammen zu sein, sollte ich mir vielleicht nicht entgehen lassen. Ich nehme meine Tasche und die Krücke zur Hand. „Da wollte ich sowieso hin.“ Ich kann in seinem Gesicht, für einen winzigen Augenblick, erkennen, dass er erstaunt über meine Antwort ist, sich aber gleich wieder fassen kann. Ein kleines Schmunzeln kann ich nicht verkneifen, sehe jedoch zu Boden, dass er es nicht sehen kann.
„Soll ich Sie stützen?“
„Nein, geht schon.“
Beim Aufenthaltsraum der Krankenschwester halte ich an und teile einer Pflegerin mit, dass ich mich draussen aufhalte. Schweigend gehen Alexander und ich nebeneinander weiter. Erst als wir uns unter freiem Himmel befinden, bricht er die Stille zwischen uns.
„Was ist Ihnen widerfahren, dass Sie in diesem Krankenhaus landeten?“ Offensichtlich ist ihm diese Frage nicht leichtgefallen, denn er spielt nervös mit seinen Fingern.
Nur was soll ich ihm dazu antworten? Etwa die grausame Realität? Ich bin noch nicht soweit, mich jemandem zu öffnen. Erst recht nicht jemandem, den ich kaum einen Tag lang kenne.
Er deutet mein Schweigen falsch und möchte sich sogleich für seine Frage entschuldigen. Ich komme ihm jedoch zuvor, indem ich meine Hand in die Höhe halte und ihn ansehe. Wir setzten uns auf eine Bank. Die Sonne tut mir gut. Es ist eine Wohltat, wie sie ihre Wärme auf meinen Körper strahlt.
„Ich bin die Treppe hinuntergestürzt.“ Während ich anfange zu erzählen, bin ich nicht fähig Alexander anzusehen. Ich richte meine Augen geradeaus und hafte meinen Blick an einer gelben Rose fest, die gegenüber von unserer Bank in voller Blüte steht. Mir ist unbehaglich dabei, dass ich ihn belüge. Aber es ist zu meiner eigenen Sicherheit? Verzweifelt versuche ich den Aufruhr in meinem Innern zu verdrängen. „Es scheint so, als hätte ich Schuhe mit zu hohen Absätzen getragen.“
„Warum sagen Sie scheint so? Wissen Sie das nicht mehr?“
Ich wende den Kopf zu ihm. „Ich leide an einem Gedächtnisverlust, was den Unfall betrifft. Erst letzten Montag habe ich mein Bewusstsein wieder erlangt.“ Ich kämpfe fest gegen meine Tränen an, die sich wieder in meine Augen stehlen. Ich senke meine Lider für einen kurzen Moment und blinzle die Tränen so gut es geht weg. Alexander darf nicht erfahren, dass mich etwas aus der Fassung zu werfen droht.
„Es tut mir Leid, dass Sie so etwas durchmachen müssen.“
Er sieht mich mit seinem warmen Blick an und wartet geduldig ab, bis ich weiter rede. Diese Augen machen es noch schwieriger für mich, ihm etwas vorzuspielen.
„Ich war zu Hause und habe mich für das Treffen mit meiner besten Freundin fertig gemacht. Sie war es auch, die mich gefunden hat und den Notarzt gerufen hat.“ Meine Stimme droht mir zu versagen.
„Was belastet Sie, dass Sie so sehr mit sich ringen müssen?“ Behutsam legt er eine Hand auf die Meine, die auf meinem Bein liegt. Ich zucke zusammen, als ich seine Berührung spüre und möchte sie schon zurückziehen. Doch er hält sie mit einem zärtlichen Druck fest. Meine Brust hebt und senkt sich heftig, als ich mich zu beruhigen versuche und mit einem Mal finde ich seine Berührung nicht mehr als eine Bedrohung, sondern als etwas Beschützendes. Aber ich bin nicht imstande ihn anzusehen. Aus meinem Augenwinkel bemerke ich eine langsame Bewegung. Seine andere Hand nähert sich meinem Gesicht. Vorsichtig streicht er meine Haare, die sich aus meinem Pferdeschwanz gelöst haben, hinter mein Ohr und nimmt mein Kinn sanft zwischen Daumen und Zeigefinger. Er dreht mein Gesicht zartfühlend in seine Richtung. Es bleibt mir nichts anderes übrig, als ihn anzusehen. Diese olivgrünen Augen, die mich intensiv mustern, öffnen mein Herz und ich kann die heraufkommenden Tränen nicht mehr stoppen. Noch bevor ich weiss wie mir geschieht, liege ich in seinen Armen und weine hemmungslos an seiner Schulter. Mein Körper wird immer wieder durch meine Schluchzer geschüttelt, während ich mich an seinen muskulösen Oberarmen festkralle.
Ich möchte es mir nicht eingestehen, aber seine Umarmung spendet mir wahren Trost. Ein feiner Duft eines Eau de Toilette umhüllt ihn und riecht ganz schwach nach.... Ja nach was denn? Verbranntem Benzin? Nachdem die Tränen endlich versiegt sind, hole ich nochmals tief Luft und ziehe seinen Duft mit mir, als ich mich von ihm löse. Verlegen sehe ich ihn an und setze mich aufrecht hin.
„Geht es wieder?“
Ich zucke nur mit den Schultern und schaue zu Boden. „Im Moment schon, danke.“
Er fragt mich nicht mehr weiter aus, was mich beeindruckt und zugleich verwirrt und spüre seinen Blick auf mir.
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