1 ...8 9 10 12 13 14 ...18 Ich kann den Schmerz, der ihn heimsucht, in seinen Augen erkennen. Doch das was er mir angetan hat, ist schlimmer, als das was ich eben getan habe.
„Ich an deiner Stelle würde mir gut überlegen, was du tust. Schau mal auf deinem iPhone nach.“ ohne ein weiteres Wort verlässt er den Raum und ich kann mich endlich meiner Trauer hingeben. Die Tränen laufen mir über die Wangen, bis sie irgendwann versiegen.
Nachdem ich mich wieder gefangen habe, erinnere ich mich an Noahs letzte Worte. Was hatte er damit gemeint, dass ich mir gut überlegen soll, ihn anzuzeigen? Mit einer bösen Vorahnung nehme ich mein Telefon zur Hand und entsperre das Display. Zwei neue Nachrichten von Noah. Ich drücke auf die Erste, um sie zu öffnen. „Nein!“ schreie ich laut heraus. Eine Übelkeit steigt in mir auf, wie ich sie noch nie empfunden hatte. Ich lasse meine Hand sinken und schliesse geschlagen meine Augen.
Draussen fegt der Wind. Es sieht grau und nass aus. Das Wetter passt genau zu meiner Stimmung. Ich fühle mich zerschlagen und leer. Letzte Nacht bin ich ständig von schrecklichen Albträumen geweckt worden. Immer wieder schreckte ich schweissnass auf und wusste anfangs nicht, ob ich wirklich geträumt habe oder ob es real war. Wann hört das endlich auf? Ich möchte vergessen können, was geschehen ist und mich wieder auf meine Zukunft konzentrieren. Eines weiss ich nun, dass ich mein Leben ohne ein eigenes Kind planen muss. Bei diesem Gedanken zieht sich schon wieder mein Herz zusammen. Schau nach vorne. Schau nach vorne, v ersuche ich mir einzutrichtern und höre die Stimme meiner Schwester. Es wird sich schon eine Lösung finden, wenn du bereit dazu bist. Ich hoffe sie hat recht. Momentan aber zweifle ich eher daran.
In meine trüben Gedanken vertieft, höre ich gar nicht, wie jemand an die Tür klopft. Erst als die Morgenkrankenschwester mit einem Tablett, das mit Brötchen, Konfitüre, Butter, heisser Milch und Kakaopulver beladen ist, eintritt, wird mir bewusst, wie sehr mich meine Gefühle und Gedanken gefangen halten. Ich muss etwas ändern und zwar schnell. Es reisst mich sonst in einen riesigen Graben.
„Guten Morgen Frau Berner. Wie fühlen Sie sich?“
„Besser. Danke.“ belüge ich die Krankenschwester.
„Wo soll ich Ihr Frühstück hinstellen?“
„Auf den Tisch neben dem Fenster.“ mich überkommt auf einmal ein Hunger, den ich schon seit Tagen verloren geglaubt hatte und setzte mich vor die köstlich duftenden Brötchen. „Ich werde später ins Café gehen.“ sage ich zur Schwester, während sie meine Bettdecke und das Kissen ausschüttet.
„Die Krücke haben Sie ja. Brauchen Sie noch Schmerztabletten?“
Gegen die Schmerzen in meinem Herzen bräuchte ich was, schiesst es mir durch den Kopf. „Ich habe noch welche. Danke.“
„Gut. Sonst drücken Sie den Knopf oder kommen in unser Schwesternzimmer, wenn Sie etwas benötigen.“
Irgendwie schaffe ich es doch noch in meinem Buch zu lesen oder habe ich nur die Seiten umgeblättert? Denn ich kann mich nicht wirklich an den Inhalt erinnern.
Ich schaue auf die Uhr. Es ist kaum nach zehn Uhr. An der Wand rechts von mir, steht die Krücke, die schon darauf wartet, mich irgendwohin zu begleiten. In diesem Zimmer fühle ich mich eingesperrt und verlassen. Was ja gar nicht so falsch ist. Aber bin ich nach dem gestrigen Vorfall dazu bereit, mich wieder im Café blicken zu lassen? Ich kann mir nur wünschen, dass mich niemand erkennt. Unter keinen Umständen möchte ich diesem Alexander begegnen. Das wäre mir zu peinlich. Im Badezimmer kämme ich meine Haare durch, lege etwas Make-Up auf mein Gesicht und decke das farbige Auge damit ab. Etwas Wimperntusche und frische Kleider. Nun fühle ich mich bereit, unter die Menschen zu gehen.
Unten im Café sehe ich mich nach einem freien Tisch um. Eigentlich bräuchte ich nicht so lange danach zu suchen, wie ich es tue. Es gibt etliche freie Plätze, aber ich stehe da und sehe mich um. Nur nach was oder besser gesagt wem halte ich Ausschau, frage ich mich. Verwirrt hole ich eine Zeitung am Kiosk und ein Rivella. In der einen Hand halte ich die Krücke und stütze mich darauf ab, in der Anderen eine Plastiktüte, in die mir die nette Verkäuferin die gekauften Sachen getan hat. Hinkend begebe ich mich an den erstbesten Tisch und setze mich so hin, dass ich aus dem Fenster blicken kann, obwohl es ausser dem Regen nichts zu sehen gibt. Die meisten anderen Tisch befinden sich hinter meinem Rücken. Obwohl ich niemand erkannt habe, befürchte ich, dass trotzdem über mich getuschelt wird. So brauche ich wenigstens das Gerede nicht mitanzusehen. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich schon hier sitze und Zeitung lese, als mich irgendwas meine Aufmerksamkeit erweckt.
Aus den Augenwinkeln sehe ich ihn, wie er einen Rollstuhl vor sich hinschiebt. Darin sitzt die Frau, mit der er gestern schon zusammensass und hinter ihnen erkenne ich die beiden Herren, die am vergangenem Tag ebenfalls anwesend waren.
Er würdigt mich keines Blickes, worüber ich ein wenig enttäuscht zu sein scheine. Warum nur muss ich bloss ständig zu ihm hinübersehen? Aber ich muss mir eingestehen, dass ich lieber diesen schönen Mann mit seinen kurzen, dunkelblonden Haaren betrachte, als mich meiner jüngsten Vergangenheit ergebe.
Als ich gerade wieder einen Blick zu ihm werfe, stelle ich fest, dass er mich ansieht. Wow, diese Augen. Ich habe das Gefühl, als würde ich mich in diesem olivgrün verlieren. Gerade in dem Moment bemerke ich, dass mich die Frau, die neben ihm sitzt, beobachtet. Gleich darauf wendet sie ihren Kopf zu Alexander und flüstert ihm irgendwas zu, worauf er sich von mir abwendet und seine Tischnachbarin ansieht und beide zu lächeln beginnen. Ich möchte es mir nicht eingestehen, aber dieser Anblick versetzt mir einen ziemlichen Stich in mein Herz. Warum plagt mich das so? Habe ich nicht genug mit meiner Misshandlung von Noah zu ertragen? Machen sie sich vielleicht über mich lustig?
Eilig packe ich meine Sachen zusammen und gehe, so schnell es mein Körper zulässt, Richtung Fahrstuhl. Ich möchte nur noch in mein Zimmer. Diese Demütigung brauche ich nicht länger hinzunehmen. Ich drücke auf den Knopf und warte ungeduldig, bis die Aufzugtüren sich endlich öffnen.
„Hallo Zoe. Ich habe gehofft Sie wiederzusehen.“
Mich überrieselt ein wohliger Schauer, als ich die unverkennbare, tiefe, sanfte Stimme hinter mir wahrnehme und drehe mich im selben Moment um. Obwohl ich mich darüber freue, dass er mich angesprochen hat, bin ich zu keiner Erwiderung fähig und bleibe stocksteif stehen. Diese olivgrünen Augen ziehen mich vollends in seinen Bann.
In einem kleinen Abstand sehe ich die beiden Männer, die vorhin mit Alexander an den Tisch traten und immer wieder verstohlene Blicke auf uns zuwerfen. Warum sind die hier und beobachten uns? Obwohl ich keine Gefahr von Alexander befürchte, wird es mir etwas unheimlich.
„Wie fühlen Sie sich heute?“ reisst er mich aus meiner Starre.
„Hallo... Alexander. Gut... danke.“ stammle ich verlegen herum.
„Wollen Sie schon wieder in Ihr Zimmer?“
„Mein Mittagessen wird sicher gleich gebracht. Ich sollte dann mal weiter.“ Obwohl ich kein Verlangen nach Essen verspüre bin ich heilfroh, auf mein Zimmer fliehen zu können. Nur vor was will ich mich in Sicherheit bringen? Etwa vor den wirren Gefühlen, die dieser attraktive Mann in mir auslöst? Ein leichtes Ziehen in meiner Magengrube lässt mich leicht erröten. Ich wünsche mir, dass Alexander das nicht sieht.
„Schade. Ich habe mir gewünscht, Sie zum Essen einladen zu können.“
„Vielleicht ein ander Mal.“ Als ich mich umdrehen möchte, fasst plötzlich eine Hand nach meinem Arm. Ich kann nichts dafür, aber ich zucke sofort zusammen und eine beklemmende Angst ergreift mich. Ich wage kaum zu atmen und sehe Alexander mit weit aufgerissenen Augen direkt an. Mein Blick muss ihn so erschüttern, dass er seine Hand von meinem Arm nimmt und sich bei mir entschuldigt.
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