„Ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn du ernsthaft verletzt werden würdest.“
„Du bist bei mir, da kann mir nichts geschehen.“
Damian dreht seinen Kopf in meine Richtung und sieht mich mehrere Sekunden lang an. Dann legt er seine Hände auf meine vor Kälte glühenden Wangen, bevor sich sein warmer Mund meinem nähert.
Die Sonne verschwindet bereits hinter den Bäumen, als wir uns auf den Rückweg machen. Pietro geht in einiger Entfernung hinter uns her, während Damian meine Hand hält. Es ist nur Händchen halten , aber es bedeutet mir unheimlich viel, da Damian nicht zu jenen Personen gehört, die sich in der Öffentlichkeit mit jemandem intim zeigen wollen.
Ich verstärke meinen Griff, weil mir etwas schon lange auf der Zunge liegt und ich nicht möchte, dass sich Damian von mir löst.
„Kann ich dir eine Frage stellen?“
„Nur zu.“
„Wer ist Susanne?“ Ich habe da so eine Ahnung, möchte es nur noch von ihm bestätigt haben.
„Sie ist meine Schwägerin.“
Ich habe es vermutet und nun habe ich endlich die Gewissheit, die ich brauche, um wieder frei durchatmen zu können. Ich hege eine Gewisse Abneigung gegen sie, obwohl es nicht wirklich fair gegenüber ihr ist. Sie hat mehrfach versucht zwischen Damian und mir Zwietracht zu säen, was ihr glücklicherweise nicht gelungen ist. Und seit Damian mir von seiner Vergangenheit erzählt hat, kann ich sie auf irgendeine verschrobene Weise verstehen, so komisch sich das jetzt auch anhören mag. Ihre Schwester ist urplötzlich aus dem Leben gerissen worden und dann komme ich und dränge mich zwischen sie und ihren Schwager. Wer würde da nicht ähnlich reagieren?
„Sie ist nur meine Schwägerin.“ beantwortet er noch einmal meine Frage. Dabei sieht er mir fest in die Augen. „Ich kenne sie beinahe mein ganzes Leben. Sie ist sowas wie eine grosse Schwester. So wie sie es für Helen war.“ Als er den Namen seiner Frau ausspricht, gerät er leicht ins Stocken. „Du brauchst nicht eifersüchtig auf Susanne zu sein. Niemals.“
Das hat er mir schon einmal gesagt. Doch da bin ich noch nicht dahintergekommen, wie sie zueinander stehen, aber nun ist alles ziemlich eindeutig.
„Jetzt wo ich alles weiss, ist es kein Problem mehr für mich, dass du dich so gut mit ihr verstehst. Ich finde es sogar sehr schön, dass du noch so einen engen Kontakt zu deiner Schwiegerfamilie hast. Das können wahrscheinlich nicht viele. Ich bewundere dich dafür.“
Ich kann seinen Blick nicht ganz deuten, mit dem er mich betrachtet. Er verschleiert sich immer mehr. Aus Trauer oder Zuneigung?
„Danke.“ sagt er schlicht und sieht mich mit einem ehrlichen Lächeln auf dem Gesicht an und ich gebe es ihm zurück.
„Was hat dich dazu gebracht nach England auszuwandern?
„Linus.“
„Linus?“ wiederhole ich verwundert den Namen seines besten Freundes.
„Er kam zur Beerdigung und blieb für ein paar Tage bei mir. Während er versucht hat, mich wieder aufzubauen, habe ich nur weiter dicht gemacht und mich jeden Tag besoffen und ihn dann irgendwann vertrieben, obwohl er nur mein Bestes wollte.
Als mir die Sauferei nicht mehr genug Befriedigung gab, fing ich an zu prügeln. Ich fand einen Club, der illegale Kämpfe ausführte. Die ersten paar Mal bekam ich ordentlich was auf den Kopf. Aber mit der Zeit wurde ich richtig gut und es hat mir gefallen, wie die anderen unter meinen Schlägen zusammenbrachen.“ Er lacht verbittert auf. „Ich glaubte wirklich, dass ich auf dem richtigen Weg sei. Ich dachte, ich könnte mich so an dem Tod meiner Frau und Tochter rächen und habe so lange weitergemacht, bis Linus plötzlich wieder vor meiner Tür stand. Er hat mich praktisch aus meinem Dämmerzustand gerissen und mich nach London gezerrt. Es hätte mir nichts Besseres passieren können, als Rose und ihrem Mann zu begegnen. Während ich in den ersten Monaten bei Linus wohnte, kamen sie fast täglich vorbei. Ich kann dir nicht sagen, was sie gemacht oder gesagt haben, das mich wieder auf die richtige Bahn brachte, aber sie schafften es und dafür werde ich ihnen immer dankbar sein. Sie waren die beste Hilfe, die ich mir überhaupt wünschen konnte, um mit dem Tod von Luna und Helen umgehen zu können.“
Meine Stimme zittert leicht, als ich ihm eine weitere Frage stelle. „Warum ist der andere auf eure Strassenseite geraten?“
Er holt mindestens ein Dutzend Mal tief Luft, bevor er mir antwortet. Ich kann ihm ansehen, dass ihn meine Frage aufwühlt, trotzdem beantwortet er sie ziemlich ruhig. Seine Hand noch immer in meiner. „Er war ein verwirrter, alter Mann.“
„Hat er den Unfall überlebt?“
„Ja.“
„Und wie geht es dir damit?“
„Anfangs wollte ich ihn umbringen. Ich wollte, dass er in der Hölle schmort. Dass er niemals mehr gehen kann und dass er seit dem Unfall an den Rollstuhl gefesselt ist, konnte mich damals nicht beruhigen. Schliesslich hat er mir das genommen, was ich am meisten liebte. Einfach so.“ Er hält kurz inne und ein schwaches Schmunzeln umspielt seine Mundwinkel. „Doch heute haben wir so was wie eine Art freundschaftlicher Verbindung.
Verblüfft reisse ich die Augen auf und sehe ihn von der Seite an. „Freundschaftliche Verbindung?“
Er zuckt mit den Schultern. „Erstaunlich, nicht wahr?“
„Allerdings. Verrätst du mir, wie es dazu kam?“
„Er hat mich oft angerufen und mich um Verzeihung gebeten. Aber ich war nicht bereit zu verzeihen. Nie. Es kamen Briefe, Karten, doch ich habe auf kein einziges Schreiben geantwortet. Am Telefon habe ich ihn angeschrien und ihn Mörder genannt.“
Oh Gott. Mir gefriert das Blut in den Adern, als ich den wütenden, verletzten Damian vor meinem inneren Auge sehe, der den anderen Mann aufs übelste beschuldigte und beleidigte. Auch wenn ich Damian verstehen kann, habe ich doch plötzlich Mitleid mit dem Unfallverursacher.
„Warum...“
„Warum es anders kam?“ spricht er die Frage für mich aus. „Eines Abends stand er vor meiner Tür. Ich hatte das Gefühl von Gott verarscht zu werden und bin auf ihn losgegangen. Auf einen alten, wehrlosen Mann in einem Rollstuhl. Gerade als ich meine Faust hob, um ihm in sein Gesicht zu schlagen, zerbrach irgendwas in mir und zwang mich auf die Knie. Minutenlang blieben wir schweigend voreinander. Er sitzend, ich kniend.
Ich habe gar nicht bemerkt, dass mir die Tränen über die Wangen liefen. Erst als er die Hand hob und mir zitternd über den Kopf strich. Ich wollte ihn abwimmeln, hatte aber keine Kraft mich zu wehren. Als ich meinen Blick auf sein Gesicht richtete und in seine tränenden Augen sah, erkannte ich, dass er alles tun würde, um den Unfall ungeschehen zu machen. Dass er sich selbst nicht verzeihen konnte, was damals geschah.
Zu meiner eigenen Verblüffung stand ich auf, trat hinter seinen fahrenden Stuhl und schob ihn in mein Haus. Wir haben stundenlang geredet, geweint und wieder geredet. An jenem Tag konnte ich ihm irgendwie vergeben und haben es uns zur Gewohnheit gemacht, uns einmal im Jahr an ihren Gräbern zu treffen.“
Mir bleiben die Worte weg. Ein weiteres Mal beweist er mir, was für ein herzensguter und selbstloser Mensch er ist und meine Liebe zu ihm wächst immer mehr.
Noch vor einem Tag glaubte ich, dass es aus wäre zwischen uns, dass wir keine Chance mehr hätten, doch in nur wenigen Stunden hat sich alles in die andere Richtung gedreht. Er hat sich mir geöffnet und beantwortet mir alles, was ich von ihm wissen möchte.
Im Moment könnte ich nicht glücklicher sein.
Es ist bereits dunkel, als wir in Knightsbridge ankommen. Es war ein Tag voller Enthüllungen, die ich wahrscheinlich noch während den nächsten Tagen zu verdauen habe. Aber ich möchte ihn um nichts in der Welt ungeschehen machen. Auch wenn das bedeuten würde, dass ich die vergangenen Tage nochmals durchleiden müsste. Es brauchte unseren Streit, unsere Trennung, damit Damian endlich über seinen Schatten springen und mir alles erzählen konnte, was in seinem Leben passiert ist.
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