1 ...6 7 8 10 11 12 ...19 „Du hast alles Recht der Welt, mir diese Frage zu stellen. Also lass deine Lippe los. Wenn jemand darauf herumkaut, dann bin ich das.“ Als er mit seinem Zeigefinger meine Lippe aus seinen Fängen befreit hat, blickt er mir geradewegs in die Augen. Es verstreichen einige Sekunden, bis er schliesslich auf den eigentlichen Punkt unseres Gesprächs zurückkommt. Es fällt ihm keineswegs leicht, meine Frage zu beantworten, denn in seinen Augen steht ein seltsam trauriger Ausdruck. Sein Mund ist ein schmaler Strich und seine Schultern hängen nach unten, so als würde ein schweres Gewicht auf ihnen lasten. Trotzdem ist er wild entschlossen, mich ins Vertrauen zu ziehen. „Luna wäre am Donnerstag fünfzehn geworden.“
Ich traue mich kaum zu atmen, geschweige denn zu bewegen. Mit dem hätte ich niemals gerechnet und sofort packt mich ein schlechtes Gewissen, weil ich ihm so zugesetzt habe. Plötzlich kann ich vieles verstehen und mit anderen Augen betrachten.
„Jedes Jahr reise ich an ihrem Geburtstag in die Schweiz, um an ihr Grab zu gehen und um ihr ein Geschenk zu geben. Sie soll wissen, dass ich sie nicht vergessen habe und das auch niemals tun werde. Normalerweise fliege ich einen Tag vor ihrem Geburtstag nach Hause. Aber dieses Mal war ich fast zu spät, weil ich doch tatsächlich für ein paar Wochen nicht an ihren Tag gedacht habe. Nicht an Luna und nicht an Helen. Zumindest nicht so stark, wie vorhin.“
„Vorhin?“ frage ich ihn mit belegter Stimme.
„Bevor du in mein Leben getreten bist. Und dafür hasste ich mich.“
Ich kann ihm kaum in die Augen sehen, so sehr verletzen mich seine Worte. Hasst er sich dafür, dass er mich kennengelernt hat? „Und mich?“ Ich kann die nächste Frage kaum aussprechen. „Hasst du mich dafür, dass du mir wichtig bist?“
„Nein! Verflucht nein!“ Er rauft sich die Haare. „Jess.“ Verzweiflung schwingt in seiner Stimme mit und springt auf, kommt auf meine Seite und bleibt dicht vor mir stehen. Seine Augen fest auf meine gerichtet. „Das ist jetzt total falsch rübergekommen.“ Er nimmt meine Hände in seine. „Ich habe fast den Geburtstag meiner Tochter vergessen und in dem Moment hasste ich mich, weil ich mein Dasein wieder anfing zu geniessen, während meine Tochter und meine Frau all die schönen Sachen des Lebens nie mehr erleben dürfen. Ich hasste mich, weil ich jemanden zwischen mich, Luna und Helen liess. Ich glaubte, ich hätte sie verraten. Deshalb habe ich mich auf Eastbourne verkrochen und mich vollaufen lassen.“ Er holt tief Atem. „Und weil ich mit der Situation nicht klarkam, dass es nach ihrem Tod einen anderen Menschen gibt, der mir ans Herz gewachsen ist. Dass diese Person mein Leid lindert und sie mir viel mehr bedeutet, als dass ich mir eingestehen möchte. Erst als du in meinem Haus aufgetaucht bist und mir den Kopf gewaschen hast, begriff ich, dass ich es nicht ertragen würde, dich auch noch zu verlieren. Ich bin gleich am nächsten Morgen in die Schweiz gereist und habe meine Tochter und meine Frau um Verständnis gebeten. Ich bat sie, mir zu vergeben, dass ich wieder glücklich bin. Dass ich mit einer anderen Frau wieder lachen kann. Dass sie mein Leben mit Freude, Wärme und Hoffnung ausfüllt.“ Damian legt seine Hände an meine Wangen, damit ich seinem intensiven Blick nicht ausweichen kann. „Ich danke dir, Jess. Ich danke dir dafür, dass es dich gibt und dass du in mein Leben gekommen bist.“
Ich bin völlig überwältigt von seinem Geständnis, dass mir die Tränen lautlos in die Augen steigen und unaufhaltsam über das Gesicht rollen.
„Schsch.“ Damian wischt die Tränen mit seinen Daumen weg. „Bitte verzeih mir, dass ich ein solches Arschloch war. Ich wusste nicht, wie ich damit umgehen soll, aber ich werde daran arbeiten.“ Er hat den Blick noch immer fest auf mich gerichtet.
„Ich... ich....“ Schon zum zweiten Mal an diesem Morgen muss ich mir auf die Zunge beissen, damit ich ihm nicht sage, dass ich ihn liebe. Nach allem, was er mir anvertraut hat, möchte ich ihn mit jenen drei Worten nicht bedrängen oder überfordern. Er braucht Zeit, um sich mit dieser Situation arrangieren zu können und diese werde ich ihm geben. Erwartungsvoll sieht er mich an. Da fällt mir ein, dass ich noch nichts auf seine Entschuldigung erwidert habe. „Was bedeutet das für uns?“ frage ich ihn schliesslich.
„Ich möchte, dass du bei mir einziehst. Ich meine so richtig. Nicht nur, dass du ein paar Kleider hier deponierst, sondern dass du all deine Sachen hierher bringst und bei mir bleibst.“
Ich starre in seine wunderschönen, vor Freude strahlenden, braunen Augen. All die Zweifel die mich in den vergangenen Tagen quälten, sind wie vom Erdboden verschluckt und in diesem Moment frage ich mich, wie ich annehmen konnte, dass ich ihm nicht genug sein könnte.
Meine Kehle ist wie zugeschnürt, so gerührt bin ich von seinem Vorschlag.
„Was hältst du davon?“
„Ich bin sprachlos.“
„Ist das ein Ja?“
„Ja! Ja! Ja!“ rufe ich lachend heraus. Ich strecke meine Arme aus, ziehe ihn an mich und schlinge die Beine um seine Hüften.
Obwohl erst ein paar Stunden vergangen sind, seit er mich gefragt hat, ob ich bei ihm einziehen möchte, ist sein Kleiderschrank bereits für mich freigeräumt. Er überlässt mir den halben Schrank, besser gesagt, den halben Raum, obwohl ich nicht annähernd so viele Kleider besitze, um diesen Platz zu füllen. Aber die Geste und dass er sich gleich an die Arbeit gemacht hat, nachdem ich zugesagt habe, hat mich noch immer in seinem Bann.
Ich liege auf seinem Bett, unserem Bett, bei diesem Gedanken muss ich schmunzeln und sehe zu, wie er seine vielen Anzüge an einen anderen Ort verfrachtet. Dass er alles selbst macht und nicht Angelica damit beauftragt, zeigt mir ebenso, wie wichtig es ihm ist, mich bei sich zu haben.
„Was gibt es da zu schmunzeln?“ möchte er wissen, als er gerade ein paar Hemden auf einen Sessel legt.
„Ich kann noch immer nicht ganz glauben, dass ich das hier jetzt unser nennen darf.“
„Alles was meins ist, ist auch deins.“ Er kommt zu mir und legt sich neben mich aufs Bett.
„Geht das nicht etwas zu schnell?“
„Willst du einen Rückzieher machen?“ fragt er mich. Verwirrung schwingt in seiner Stimme mit.
„Es geht hier nicht um mich, sondern um dich. Vor noch nicht einmal einer Woche wolltest du mich aus deinem...“
„Sprich es nicht aus.“ Damian legt einen Finger an meinen Mund und hindert mich am weitersprechen. „Ich möchte, dass du diesen Schwachsinn aus deinem Kopf streichst und nie mehr daran denkst. Versprich es mir.“
„Kann ich das?“ frage ich unsicher.
„Bist du glücklich?“
„Ja.“
„Wir schaffen das.“ Er beugt sich zu mir und legt seinen weichen Mund sanft auf meinen.
Keine Ahnung von wo er plötzlich diese Kraft nimmt, woher diese Zuversicht kommt. Aber eines sehe ich ganz klar. Dass es ihm ernst ist, dass er keine Spiele spielt und dass er seine Vergangenheit besiegen möchte.
„Ja.“ hauche ich an seinen Lippen und öffne meinen Mund, um seiner Zunge Einlass zu gewähren.
Wir biegen soeben auf den Parkplatz des Forestlakes. Damian möchte mich in jenes Restaurant ausführen, in dem wir unser erstes Date hatten und wo wir uns später zum ersten Mal küssten. Ich kann mich noch ganz deutlich an jenen Tag erinnern. Wer hätte gedacht, dass ich in näherer Zukunft zu Damian ziehen, geschweige denn, dass wir eine Beziehung haben würden, nicht nur eine billige Affäre. Nein, wir sind eine Stufe weiter. Es ist wirklich etwas Ernstes zwischen uns. Auch wenn ich mich noch an den Gedanken gewöhnen muss, fühlt es sich wunderbar an. Geborgen, sicher und ja... geliebt.
„Wir sind da.“ ertönt Pietros Stimme aus der Gegensprechanlage, da die Trennwand oben ist, weil wir ungestört sein wollten.
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