1 ...7 8 9 11 12 13 ...19 Ein anderer Mitschüler und Schulfreund war Hartmut Michold, mit dem ich den von mir gefundenen Turmalinschurf auf Hebolds Kuppe bei Oppach ausbeutete. Nach dem Mittelschulbesuch in Neusalza-Spremberg holte er das Abitur nach, studierte Medizin und arbeitet bis heute als Facharzt für Gastroenterologie, Facharzt für Innere Medizin in Rostock und Gelbensande.
Wenn man aus heutiger Sicht auf unsere Grundschulklasse schaut, war der Geburts-Jahrgang 1942/1943 recht erfolgreich. Das bezieht sich im Wesentlichen auf die achte Klasse. Anfänglich betrug die Schülerzahl 30. Durch Wegzug pegelte sich diese Zahl am Ende auf 22 ein – eine gute Klassenstärke! Es ist praktisch niemand gescheitert. Jeder hat als Erzieher, Lehrer oder auch Facharbeiter seinen Mann gestanden. Vier Promovierte von 22 Grundschülern (11 Mädchen, 11 Jungen) einer Klasse sind schon beachtlich. Unsere Lehrer konnten nicht die Schlechtesten gewesen sein. Es gab aber auch Ausnahmen: Die Musiklehrer hatten die Klasse kaum im Griff – außer Hartmut Michold sang kein Junge beim obligatorischen Singen mit.
Ich glaube, es war in der achten Klasse. Der Biologieunterricht wurde von einer jungen Absolventin übernommen – der Lehrerin Gisela Hornig. Irgendwie hatte sie keine gute Beobachtungsgabe und auch kein pädagogisches Gespür. Sie war extrem unsicher und dadurch kam es häufig zu Störungen des Unterrichtes. Dabei beging sie den Fehler, immer wieder die Falschen zu ermahnen und zu bestrafen. Als Ergebnis wurde der Unterricht bei ihr einfach boykottiert – während einer Unterrichtsstunde drehten ihr alle Schüler ohne Ausnahme und unabgesprochen den Rücken zu. Sie musste letztlich den Schuldienst quittieren. Diese Ereignisse spielten sich ebenfalls im Klassenzimmer 9 unter dem Dach ab.
Die Politik hatte das Schulsystem noch nicht komplett durchdrungen. Im Rahmen des Geografie-Lehrplans erfuhren wir noch vieles vom westlichen Teil unseres Heimatlandes. Manches Lehrmaterial – große Schautafeln und auch Filme – stammte noch aus der Vorkriegszeit. In den fünfziger Jahren wurden Schulfeste mit Ausstellungen von Lehrmaterial im Kretscham, einer Gaststätte im Zentrum des Ortes, durchgeführt. Die Geissler- und Crooks-Röhren in Verbindung mit einem großen Induktionsapparat sind in lebhafter Erinnerung geblieben.
Das uns vermittelte politische Ziel war die Wiedervereinigung ohne Bedingungen.
Zur Jugendweihe wurde noch der voluminöse, 520 Seiten fassende Band „Unser Deutschland“ mit einem Vorwort von Wilhelm Pieck ausgehändigt.
Der unaufhaltsame Niedergang des Schulsystems wurde ab 1963 durch Margot Honecker als Ministerin für Volksbildung eingeläutet. Unter ihr wurde unter anderem das „Lotto-System“, das Auswählen der richtigen Antwort auf eine Frage aus drei unterschiedlichen Möglichkeiten, im Schulunterricht eingeführt. Ein mehr als fragliches Verfahren, das in Klassenarbeiten später oft verwendet wurde. Mein Vater war strikt dagegen, musste es jedoch gegen seinen Willen auch verwenden.
Hauerlehrling im VEB Steinkohlenwerk „Martin Hoop“ in Zwickau
Nach dem Abbruch der Oberschulzeit begann ich im September 1958 im Steinkohlenbergbau in Zwickau als Hauerlehrling. Vorausgegangen war eine Werbekampagne durch Zwickauer Kumpel an unserer Schule zwei Jahre vorher. Irgendwie hatte sich das im Hinterkopf eingeprägt.
Der größte Teil der Lehrlinge stammte aus dem Vogtland und dem westlichen Erzgebirge. „Einheimische“ aus Zwickau waren nicht darunter. Nur drei aus unserer Klasse kamen aus entfernteren Gegenden: Jürgen Kranich aus Frankfurt/Oder, Dieter Thielecke aus Dresden und ich aus Oppach. Andere kamen aus Karl-Marx-Stadt (Rüdiger Zschubiella), aus Plauen (Klaus Zurafski), Treuen und Oelsnitz im Vogtland. Wir waren im 1951–1953 erbauten Internat in Eckersbach am Scheffelberg untergebracht. Jeweils zwei oder drei Lehrlinge teilten sich ein Zimmer. Insgesamt konnten 530 Lehrlinge untergebracht werden. Für Ordnung und Disziplin sorgten ziemlich strenge Erzieher, die uns Tag und Nacht unter Kontrolle hielten. Darunter waren auch z. T. rigorose und recht fiese Personen. Schon bei der allerersten Begegnung wurden so die Fronten geklärt. Ein Herr Roscher putzte den Mitlehrling Klaus Schlei mit den folgenden Worten herunter: „Du bist für mich ein Rotzfleck, der die Wand runter läuft.“ Klaus hatte sich nur darüber aufgeregt, dass Herr Roscher zu unserer ankommenden Gruppe rief: „Ruhe! Hier geht es ja zu wie in einer Judenschule“. Dies zum Bild des sozialistischen Erziehers in der Realität. Wahrscheinlich war er vorher Aufseher in der JVA Schloss Osterstein. Es gab aber auch menschlichere Typen, z. B. Herrn Zimmermann, an die man sich gern zurückerinnert.
Den obigen Ausdruck kannte ich bereits aus der Grundschulzeit – er wurde vom Russischlehrer Oslislo im Unterricht schon einmal verwendet.
Gerade diese kleinen, am Rand ablaufenden Vorkommnisse und Ereignisse haben auf meine persönliche Entwicklung einen großen Einfluss gehabt. Immer wieder wurde mir das ungeschminkte Leben hinter der schön getünchten Fassade vorgeführt. Dazu gehörten auch die steten und meist unkommentierten „Abgänge“ von Freunden, Schulkameraden und später auch Arbeitskollegen in den Westen. Der erste war wohl Dietmar Endler, ein Mitschüler und Freund. Sein Vater arbeitete im VEB ESGO und war als guter Facharbeiter bei Siemens in Berlin-West sehr willkommen. Ende der 7. Klasse, in den Sommerferien, war er einfach weg. Erst nach langen 51 Jahren haben wir uns zum Klassentreffen 2007 wiedergesehen.
Mein Hausarzt Dr. Nicolai hatte mir diese Lehre wärmstens empfohlen. Natürlich hatte er nicht die leiseste Ahnung, was da auf mich zukam. Aber: Seit frühem Kindesalter litt ich unter starkem Asthma und Ekzem. Er versprach sich eine deutliche Verbesserung oder sogar Heilung. Ein heutiger Arzt würde sich an den Kopf greifen. Aber Dr. Nicolai hatte Recht – ich habe durch die schwere Arbeit und den vielen Sport, 8 Stunden pro Woche zuzüglich 2 Stunden Schwimmunterricht, das Asthma und auch das Ekzem vollständig verloren. Das ging recht schnell. Im 1000- bzw. 1500m-Lauf war ich meist zweiter. Jens Trauer, sehr sportlich, war immer schneller. Nach den ersten Sommerferien kam er nicht zurück. Er war mit seinen Eltern in den Westen gegangen. Auch in den anderen Disziplinen war ich nicht schlecht – in der Grundschulzeit war das noch unvorstellbar. Herr Schaarschmidt, unser Sportlehrer, ein ehemaliger Amateurboxer, hat in mir das Interesse am Boxen geweckt. Und gerade das zusätzliche Boxtraining führte zu einer greifbaren Verbesserung der Fitness für die täglichen Herausforderungen im Berg. In der Lehrzeit habe ich eine für mich interessante Beobachtung gemacht. Zu Beginn der Lehre war ich beim Anstellen im Sport vorn auf dem dritten Platz und bis zum Ende der Lehre wurde ich bis auf den drittletzten Platz „durchgereicht“. Bei den Lehrlingen, die nach uns kamen, war das Größenspektrum noch viel stärker ausgeprägt.
Ein schreckliches Ereignis während der Lehrzeit war das Grubenunglück, eine Kohlenstaubexplosion in der 1. Abteilung des Steinkohlenwerkes „Karl Marx“ am 22. Februar 1960 in Zwickau mit 123 Toten. Darunter waren auch zwei Bergarbeiter, Vater und Sohn, aus Oppach, meinem Heimatdorf: Georg Köhler (1908–1960) und Siegfried Köhler (1942–1960).
Während der Lehrzeit überschatteten auch zwei tödliche Arbeitsunfälle unter den Förderlehrlingen den normalen Arbeitsalltag: der schreckliche Unfall von Klaus Schricker, der an einem Bremsberg auf einen Haspel aufgewickelt wurde. An den anderen, nicht weniger schrecklichen Unfall des Lehrlings Barthel kann ich mich nicht mehr genau entsinnen. Zum Verständnis: Förderlehrlinge waren in der Regel Abgänger aus der 5. oder 6. Klasse der Grundschule – also mindestens zweimal sitzengeblieben. Klaus Schricker hätte niemals als Förderlehrling eingestellt werden dürfen! Er war ziemlich unbedarft und wurde auch von seinen Mitlehrlingen extrem gehänselt. Das führte sogar zu einem Selbstmordversuch durch Erhängen. Er wurde von seinem Mitlehrling Barthel in letzter Minute gerettet. Lange konnte man die Strangulierungszeichen am Hals sehen. Beide fanden den frühen Tod bei der Arbeit unter Tage.
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