Tobias erhob sich langsam und auch sein Gegner rappelte sich auf. Sein Gesicht war vom Schmutz des Schulhofes ganz streifig, wies aber ansonsten keine Verletzungen auf.
„Wir sind irgendwie übereinander gefallen“, sagte Tobias. „Sonst war eigentlich nichts.“
„Stimmt das, Marco?“, fragte der Lehrer nun den anderen, der sich mit dem Ärmel seiner Jacke den Dreck aus dem Gesicht wischte.
„Ja, so ungefähr.“
„Dann geht euch jetzt lieber aus dem Weg“, schlug der Lehrer vor und wandte sich ab.
„Wir sehen uns noch“, zischte Marco Tobias zu und wandte sich ab. Seine Freunde folgten ihm.
„Ich freue mich drauf“, rief Tobias ihnen nach.
Philipp trat an ihn heran.
„Mann, das war ja eine tolle Vorstellung von dir“, sagte er. „Danke für deine Hilfe.“
„Worum ging es eigentlich?“, fragte Tobias.
„Die drei sind aus Dolben, und zwar aus dem alten Dorf. Sie können die Leute aus dem Neubauviertel nicht leiden, weil die für sie die Reichen sind, die angeblich ihr Dorf kaputtmachen, oder so. Jedenfalls müssen sie sich dauernd aufspielen. Von daher war es mal ganz gut, dass sie jetzt eins aufs Maul bekommen haben.“
„Das Problem ist nur, dass der Streit in Dolben weitergehen wird. Sie werden uns nicht in Ruhe lassen“, gab Tobias zu bedenken.
„Gemeinsam sind wir stark“, sagte Philipp feierlich und klopfte Tobias auf die Schulter.
Der schaute an sich herunter und stöhnte auf.
„Meine Mutter bringt mich um“, seufzte er und klopfte vergeblich an seiner Hose herum. „Das ist die zweite versaute Hose in zwei Tagen.“
***
„Wie siehst du denn schon wieder aus“, empfing Frau Grüttner prompt ihren Sohn, als er zu ihr ins Auto stieg.
„Tut mir leid, bin hingesegelt“, sagte Tobias und verschwieg den wesentlichen Teil des Vorfalles, der zu dem wenig schönen Aussehen seiner Hose geführt hatte.
„Dann kaufen wir wohl besser gleich zwei Hosen“, schlug seine Mutter vor und übersah bewusst den gequälten Gesichtsausdruck ihres Sohnes.
Tobias konnte Klamotteneinkaufen nicht ausstehen.
Frau Grüttner parkte auf dem Parkplatz eines Bekleidungshauses. Gelangweilt folgte er ihr in das große Geschäft.
Mutter und Sohn brauchten fast eine halbe Stunde, um für Tobias zwei Hosen auszusuchen. Der hatte in dieser Zeit mehr als einmal das Gefühl, in der Kabine ersticken zu müssen.
„Und solltest du weiterhin einen derartigen Verschleiß an Hosen haben“, sagte sie beim Einsteigen in den Wagen, „werden wir hier öfter mal ein Stündchen zubringen. Überleg dir das also.“
Tobias schwor sich, nur noch wie ein Balletttänzer zu schweben. Insgeheim freute er sich über die neuen Hosen, in denen er echt cool aussah. Er wusste, dass es seiner Mutter nicht leichtfiel, mal eben so viel Geld für seine Sachen auszugeben, bloß weil er nicht aufpassen konnte. Aber vielleicht würde sich das mit dem Geld ja mal ändern, jetzt, wo seine Mutter eine neue Stelle hatte.
„Wie war es eigentlich heute bei deiner neuen Stelle in der Kanzlei?“, fragte er unvermittelt.
„Ich dachte schon, du würdest gar nicht mehr fragen“, erwiderte sie lächelnd und bog auf den Parkplatz eines chinesischen Restaurants ein. „Ich glaube, wir haben heute einen Grund zum Feiern.“
„Wir gehen essen?“, freute sich Tobias.
Sie waren seit ewigen Zeiten nicht mehr zusammen essen gewesen. Mehr als zu einer Bratwurst hatte es nie gereicht. Und für chinesisches Essen ließ er sowieso alles stehen und liegen.
„Ich wurde sehr freundlich bei einer Tasse Kaffee empfangen“, berichtete sie, als sie sich zwei Plätze am Fenster ausgesucht hatten. „Die Kanzlei besteht aus drei Rechtsanwälten, einer Schreibkraft und mir als Fachangestellte für Rechtsanwalts- und Notariatsangelegenheiten. Meine Chefs sind Herr Dr. Schirmer, der auch Notar ist, und Herr Dr. Steiner, der übrigens auch irgendwo in Dolben wohnt. Er ist der Strafrechtler und macht einen sehr netten und lockeren Eindruck.“
„Bestraft der die Verbrecher vor Gericht?“, fragte Tobias.
„Der verteidigt Straftäter vor Gericht, damit sie nicht unschuldig hinter Gitter kommen“, erklärte Frau Grüttner.
„Das stelle ich mir unheimlich spannend vor“, sagte Tobias. „Der muss ja den ganzen Tag mit richtigen Gangstern zu tun haben.“
„So ungefähr“, lachte seine Mutter und schlug die Speisekarte auf.
Sie blätterten langsam von den Vorspeisen über die Hauptgerichte zu den Desserts und entschieden sich dann, den Mittagstisch zu nehmen.
„Darf ich die Lychees zum Nachtisch?“, fragte Tobias und freute sich, dass seine Mutter nickte.
Ein freundlicher Chinese brachte ihnen ihre Getränke, und Tobias stieß mit seiner Mutter an.
„Auf deine neue Stelle, Mama“, prostete er ihr zu. „Du hast aber noch gar nicht von dem dritten Rechtsanwalt erzählt.“
„Der Dritte im Bunde ist Herr Neuberger. Der ist jünger als die anderen beiden, etwa so alt wie ich. Er ist in der Kanzlei für Zivilklagen und das Verkehrsrecht zuständig, also zum Beispiel für Schadensersatzklagen und Verkehrsunfälle.“
„Wenn ich also gestern in ein Auto hineingerauscht wäre statt in eine Baustelle, hätte er mich vor Gericht verteidigt?“, wollte Tobias wissen.
„Er hätte uns sicher geholfen, mit deinem Unfallgegner klarzukommen“, nickte seine Mutter.
„Beruhigend zu wissen“, stellte Tobias erleichtert fest.
Die Suppe wurde serviert, und beide aßen mit sichtlichem Appetit.
„Und wie war dein erster Schultag in Sanddorf, abgesehen davon, dass du schon wieder hingefallen bist? “
Tobias erzählte von den Klassenkameraden und den Schulbüchern, vom Gebäude und den Hausmeistern, von seiner Platznachbarin und dem Schulassistenten. Von seiner ersten Prügelei erzählte er nichts. „Der Philipp, von dem ich dir gestern erzählt habe, ist auch in der 5 b. Deshalb wollte ich so gern in diese Klasse. Er ist der Einzige, den ich hier schon kenne.“
Seine Mutter lächelte. „Ich habe mich schon gewundert, wieso du unbedingt in diese Klasse wolltest.“
Das Hauptgericht wurde serviert.
„Was ist eigentlich mit meinem Fahrrad?“, fragte Tobias und schaufelte sich eine ordentliche Portion Reis auf den Teller.
„Musste ich für zwei Tage abgeben“, berichtete sie. „Sie müssen das Vorderrad richten. Kriegen sie aber hin, haben sie gesagt.“
Tobias nickte.
„Ich habe mich heute Nachmittag mit Philipp verabredet. Wir wollen ein bisschen herumstromern und uns Dolben ansehen“, sagte er.
„Nichts dagegen“, erwiderte seine Mutter. „Aber komm nicht wieder mit zerfetzten Hosen nach Hause.“
„Indianerehrenwort“, schwor Tobias feierlich und hob drei Finger seiner rechten Hand.
Die Hexe und der verbotene Park
„Lass uns durchs alte Dorf gehen“, schlug Tobias vor. „Dann kannst du mir gleich mal zeigen, wo man hier einkauft.“
Philipp war einverstanden. Er hatte sein Rad bei Tobias vor der Haustür angeschlossen, als er hörte, dass dessen Fahrrad noch in der Werkstatt war. So marschierten sie los, ein Stück den Hasenring hinunter, dann links durch eine noch unbefestigte Seitenstraße und schließlich quer über ein unbebautes Grundstück, auf dem ein riesiger Berg Mutterboden lag. Sie kletterten rutschend und auf allen vieren den Berg hinauf und rannten ihn auf der anderen Seite wieder hinunter. Dann stiegen sie über einen kleinen Staketenzaun, schlichen über ein fremdes Grundstück und erreichten den alten Dorfkern von Dolben.
Das alte Dolben war sehr idyllisch. Neben der schmalen Durchgangsstraße lag der Dorfteich umringt von kleinen Fachwerkhäusern, deren Dächer sich beinahe berührten. Ähnlich kleine Häuser standen rechts und links der Straße, manche noch mit Reet gedeckt, unterbrochen von etwas größeren Häusern, die neueren Datums waren und kleine Läden beherbergten. Dort gab es eine Bäckerei, eine Fleischerei, ein Schreibwarengeschäft, das auch Spielsachen führte, und ein kleines Bekleidungsgeschäft. Davon würde Tobias seiner Mutter sicherheitshalber nichts erzählen.
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