„Sind Sie unter die Psychiater gegangen, Professor?“
„Ich bin Archäologe. Ich finde Dinge, setze sie zusammen und interpretiere sie. So habe ich es mit Ihrem Lebenslauf getan. Ich habe gegraben, Fetzen gefunden und sie zusammengefügt. Was bleibt, ist eine brillante, aber leider etwas gestörte Archäologin. Nichts, was man nicht restaurieren könnte.“
Professor hin oder her, Legende oder nicht, dieser Mann machte mich wütend. „Sie haben kein Recht in meinem Leben herumzustöbern. Sie sind Archäologe, ihre Dienste gelten ausschließlich den Toten und nicht den Lebenden. Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden?“ Zornig sortierte ich, ohne es zu bemerken, ein Buch falsch ein. Professor Bachmann nahm es wieder heraus und folgte mir in die nächste Reihe. Wortlos sah er mir zu, wie ich gegen die Wälzer ankämpfte, um ein weiteres Buch einzusortieren. Innerlich fluchend, warf ich die Lektüren mit fehlendem Respekt zu Boden, um mich meinem Zweikampf mit dem Wälzer intensiver widmen zu können. Schließlich gelang es mir, das dicke Buch zwischen zwei seiner Kollegen zu schieben. Mit einem triumphierendem Schnauben kniete ich mich nieder und sammelte die lieblos behandelten Werke wieder auf.
Plötzlich legte sich eine Hand auf meinen Arm. Erschrocken blickte ich in Professor Bachmanns Antlitz. Ich hatte ihn im tiefen Groll völlig vergessen. „Wollen Sie alles wonach Sie gestrebt haben vergraben?“ Sein wettergegerbtes Gesicht drückte große Besorgnis aus. Er wirkte völlig zeitlos und sein vollkommen weißes Haar bestärkte diesen Eindruck. Schlagartig fragte ich mich, wie alt er wohl sein mochte. Ein zaghaftes Lächeln schlich sich auf seine Züge und seine Augen verrieten mir, dass er meinen Gedanken erraten hatte. „Ich bin mitten in der Midlifecrisis, zähle 55 Jahre und ich bin ein gebrochener Mann, der seine ganze Hoffnung in eine neue Lebensaufgabe gesetzt hat. Sie sind Bestandteil meiner Zuversicht. Geben Sie mir eine Chance, leihen Sie einem alten, verstaubten Archäologen Ihr Ohr.“
Unwillkürlich musste ich lachen. Professor Bachmann war der Inbegriff des Lebens. „Sie erwähnten meine Diplomarbeit.“, ging ich schließlich auf ihn ein.
„Darf ich Sie nun in die Mensa ausführen, oder lassen Sie mir keine andere Wahl, als Sie zu entführen?“
„Sie können sehr charmant sein. In meiner Studienzeit galten Sie allerdings als verstockt und ehrgeizig.“
„Ist das ein Ja?“
„Wenn Sie darauf bestehen.“, seufzte ich.
Der Professor nahm mir die Bücher aus der Hand, legte sie auf den Boden und zog mich hoch. Gemeinsam machten wir uns auf den Weg in die Kantine. Während dieser Zeit sprachen wir kein einziges Wort. Ab und an schielte ich verstohlen zu dem Professor. Er schien zufrieden zu sein. Denn er spazierte aufrecht, mit einem leisen Lächeln neben mir her und wirkte gelassen. Kaum in der Mensa angekommen, drückte er mich auf einen Stuhl und verschwand anmutig zwischen den hungrigen Studenten, nur um kurz darauf mit zwei Portionen Spaghetti Bolognese und Café Macchiato zurückzukehren.
„Möchten Sie noch ein kühlendes Getränk?“
„Später vielleicht, danke.“
Mit einem exquisitem Lächeln fiel der Professor über seine Spaghetti her, welche eher an lieblos eingelegte Schlangen erinnerten. Während ich ihm schon beinahe angewidert zu sah, widmete er sich ausschließlich der Befriedigung seines Hungers.
„Sie haben einen ausgeprägten Appetit, Professor.“
Mit vollem Mund zwinkerte er mir über den Spaghettiberg hinweg zu. „Wenn Sie zwei Monate in Ägypten gewesen wären, dann würden Sie sich sogar über eine Packung anständiger Chips freuen.“
„Ich dachte, die arabische Küche hätte so einiges Kulinarisches zu bieten.“
Dieses Mal schluckte er erst herunter, bevor er mir antwortete. „Die Ägypter hantieren mit scharfen Gewürzen, wie die Amerikaner mit Zucker.“
„So schlimm?“ Ich hob eine Augenbraue, während er eine abfällige Handbewegung machte.
„Schlimmer!“
Verblüfft bemerkte ich, dass ich ausgesprochen guter Dinge war. Übermütig grinste ich den Akademiker an.
Dieser lächelte schalkhaft zurück. „Ich habe eine Frage, die sich schon unzählige Professoren zuvor gestellt haben. Warum haben Sie massenhaft archäologische Befunde in den Sand gesetzt?“
Ich musste keine Wahrsagerin sein, um zu wissen, dass er auf meine Diplomarbeit anspielte. Verlegen begann ich mit den Fingern zu spielen. „Das ist etwas kompliziert.“
„Erklären Sie es mir.“
„Die Beweggründe mögen etwas zwiespältig erscheinen.“ Um meine Finger zu beschäftigen, griff ich nach der Gabel, nicht um zu essen, sondern um damit in den Nudeln herumzustochern. Ich versuchte, mich ganz dem verschlungenem Knoten auf meinem Teller zu widmen, aber der unnachgiebige Ernst in Bachmanns Stimme, ließ es nicht zu.
„Überzeugen Sie mich.“
Ich unternahm einen letzten Versuch den Wirrwarr auf meinem Teller noch mehr ins Chaos zu stürzen, ließ aber dann seufzend die Gabel sinken. „Also gut. Auf Ihre Verantwortung!“
Räuspernd schob ich mich gerade, senkte jedoch meinen Blick auf die Finger, die es nun den Spaghettinudeln gleichtaten und sich ineinanderschlangen. „Als ich das Thema für meine archäologische Diplomarbeit wählte, war ich gerade mal im ersten Semester. Während meine Studienkollegen nach sensationellen Aufdeckungen gierten, um Doktorarbeiten schreiben zu können, habe ich alles zusammengetragen, was ich ausschließlich für die Diplomarbeit benötigen würde. Kurz vor Ende des Studiums hatte ich so viel Material gesammelt, dass es für fünf Arbeiten gereicht hätte, aber ich blieb meinem Grundsatz treu. Ich wollte einen perfekten Abschluss hinlegen.“ Meine Stimme klang seltsam, irgendwie von ganz unten herausgequetscht. Behutsam schielte ich zum Professor hoch. Seine blauen Augen wirkten ernst und fragend. Ich atmete tief ein und erzählte weiter. Doch dieses Mal schaute ich nicht weg. „Eine Mitstudentin entschied sich für dieselbe Thematik, fand aber kaum Material – außer dem meinem. Drei Tage vor dem Abgabetermin bekam ich heraus, dass sie meine Arbeit kopiert und an zwei weitere Studentinnen weitergeleitet hatte. Zunächst war ich furchtbar zornig. Mein ursprüngliches Thema wollte ich nicht mehr abliefern. Doch ich konnte mir keinen Aufschub leisten. Da mir die Zeit davonlief, habe ich nicht, wie üblich, die Fakten aufgelistet oder kommentiert, sondern in Frage gestellt und neu interpretiert.“
Plötzlich spürte ich seine warme Hand auf der meinigen. Erst jetzt bemerkte ich, wie furchtbar kalt diese waren. Dadurch aus dem Konzept gebracht registrierte ich auch, dass der alte Zorn wieder Besitz von mir ergriffen hatte. Fort waren mein Grinsen, meine Stärke und meine Überheblichkeit.
„Innerhalb von drei Tagen?“
Ich konnte meinen Blick einfach nicht von seiner warmen feingliedrigen Hand nehmen. Wie hypnotisiert starrte ich darauf, während ich antwortete. „Und zwei Nächten. Die Dozenten waren völlig entsetzt über meine Arbeit, aber der Magister gab zu, dass er diese Thesen weder widerlegen noch bestätigen konnte. Und da die Jury ebenfalls so dachte, erhielt ich eine faire Note. Im Endeffekt ist meine Diplomarbeit Schund…“ – ich zuckte mit den Schultern. – „… aber bisher hat sie niemand in Frage gestellt oder die Thesen hundertprozentig widerlegt.“
Bachmann nahm seine Hand fort und begann wieder zu essen. Er rollte einige Spaghetti zusammen und schielte mich über seine Gabel hinweg an. „Es gibt Schriften, die Ihre Ansichten unterstützen.“
„Es gibt unzählige Thesen, die meiner gleichkommen, aber letztlich halten die Autoren es doch für unwahrscheinlich. Archäologen scheuen vor Vermutungen zurück. Sie wollen Beweise, Fakten oder Funde. Ohne diese Dinge zeichnen sie keine Bilder von der Vergangenheit. Ich weiß nicht, warum sie vor unbestätigten Schlussfolgerungen zurückschrecken.“
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