Lustlos sortierte ich die Wälzer nach ihren Themen. Ingenieurinformatik, Medizin, internationale Literatur und Germanistik, alles Fachgebiete, die in meiner Abteilung für Kunstpädagoik nichts zu suchen hatten. Manche Studenten hatten die lästige Angewohnheit alle Bücher herauszureißen, sich irgendwo niederzulassen, um sie schließlich dort zu vergessen. Meine Aufgabe bestand darin, diese Bücher ausfindig zu machen, zu überprüfen und anschließend wieder richtig einzusortieren. Das heißt, wenn mir die Studenten dafür genügend Zeit ließen.
Heute schien eine besondere Art der Trägheit über den Besuchern der Universitätsbibliothek in Augsburg zu liegen. Sie alle litten wohl an derselben Krankheit: Beschränktheit! Niemand mutete sich heute an, die gewünschten Bücher selbstständig herauszusuchen. Den ganzen Morgen über wuchtete ich Wälzer aus den Regalen heraus, statt sie einzusortieren. Bekümmert blickte ich auf meine Uhr und sehnte die Mittagspause herbei. Der große Zeiger musste nur noch eine halbe Umdrehung hinter sich bringen, um mich zu erlösen. Doch so wie die Studenten, schien auch der Zeiger an Trägheit zu leiden.
„Entschuldigung? Könnten Sie mir bitte sagen, wo ich ein Verzeichnis für historische Quellen in Bezug auf ...?“
Seufzend schnitt ich der jungen Studentin das Wort ab, ohne dabei aufzublicken: „Probiere es in der Abteilung für historische Wissenschaften.“
„Da habe ich schon gesucht, aber ich konnte es nicht finden und die Frau hinter der Infotheke ist nicht da.“
„Dann wird sie wohl in der Mittagspause sein.“
„Könnten Sie mir nicht helfen?“
Innerlich rollte ich mit meinen Augen. Warum konnte sie nicht einfach kurz warten oder selbst suchen? „Du kannst alles von mir haben, nur nichts Historisches.“
„Wie wäre es mit praktisch ausübender Sexualkunde?“
Ein hochgewachsener Student schob sich an der jungen Frau vorbei, knallte ein Buch auf meinen bedenklich schwankenden Bücherstapel und stützte sich angeberisch auf der Infotheke ab. Seine graublauen Augen funkelten mich übermütig an.
„Würde ich gerne, Kleiner, aber wenn ich dich in Sexualkunde einweisen würde, würde man mich wegen Kindesmissbrauch anzeigen. Also schieb deinen Arsch zum Ausleihschalter und lass dieses Buch an der Ausgabe registrieren. Wenn du es nicht haben möchtest, dann räume es gefälligst wieder auf!“
Die junge Studentin vor mir riss entsetzt ihre mandelförmigen Augen auf, während ihr männlicher Studiengenosse weiterhin anzüglich grinste.
„Ich hatte noch nie eine Bibliothekarin.“
„Was studierst du? Betriebswirtschaftslehre?“
„Woran siehst du das?“ Anzüglich grinsend lehnte er sich etwas weiter nach vorne.
„Liegt vielleicht daran, dass mich bisher nur BWL-Studenten angemacht haben.“
Der Studierende lachte laut heraus, schnappte sich sein Buch und winkte mir zum Abschied zu. Seine Mitstudentin floh.
Es gab hier drei Gruppen von Besuchern. Einmal die Studenten, die ihre Sätze mit wo ist oder sag mal begannen und ohne weitere Floskeln wieder verschwanden. Sie fragten nicht, sondern setzten lediglich voraus. Die Wenigsten von ihnen ließen sich zu einem Gespräch, geschweige denn einem Gruß, herab. Woran dies auch immer liegen mochte, das tägliche Bücherstöbern trug mit Sicherheit zu ihren ungehobelten Manieren bei. Die zweite Gruppe bestand aus den Menschen, die ihre Sätze mit Entschuldigung? Oder mit könnten Sie mir bitte sagen ... begannen. Gepaart mit den Höflichkeitsfloskeln vielen Dank oder super, danke konnte man zu 99,9 Prozent davon ausgehen, dass dies wissbegierige Bürger waren.
Ob Laie oder Student, egal ob aus Faszination oder Langeweile angetrieben, sie alle hatten eines gemeinsam: Sie waren hier, um alles zu erfahren. Ausgenommen meiner Person.
Ich war hier, um zu vergessen. Im Zentrum des geballten Wissens versuchte ich, die Geister meiner Vergangenheit zu vertreiben und betrieb auf höchster Ebene Blasphemie, indem ich genau das Gegenteil dessen tat, wozu diese Bibliothek geschaffen worden war: Mein Wissen vernichten!
„Frau Sommer?“
Diese Stimme gehörte mit höchster Wahrscheinlichkeit weder zu einem Studenten noch zu einem wissbegierigem Bürger. Dafür klang sie zu bestimmend, beinahe autoritär und dennoch schwang so etwas wie unglaubliche Ruhe darin mit. Eigentlich hätte mich diese Stimme von meiner derzeit miesepetrigen Stimmung abholen sollen, doch irgendwie sträubte sich alles in mir dagegen.
„Frau Keller, wenn es nicht allzu viele Umstände macht.“ Genervt blickte ich auf meine Uhr, ehe ich mich um die Nervensäge kümmerte. Nach wenigen Überlegungen entschied ich, dass dieser Mann nicht einmal zu der letzten Kategorie, den Dozenten zählte, sondern zu der aller letzten – den Störenfrieden. „Woher kennen Sie meinen Nachnamen?“
„Gestatten? Professor Bachmann!“
Überrascht blickte ich auf. Strahlend blaue Augen, umgeben von kleinen Lachfältchen zwinkerten mir aufmunternd entgegen. Ein schelmisches Lächeln legte sich auf sein wettergegerbtes Gesicht, als er meine verblüffte Musterung über sich ergehen ließ. Er war gut, aber äußerst praktisch gekleidet. Sein grauer Dreitagebart, sowie seine weißen vollen Haare, ließen sich nur schwer mit seinem beinahe jugendlichem Kleidungsstil vereinbaren.
„Professor Bachmann? Der Professor Bachmann? Entschuldigen Sie meine Ungehobeltheit. Freut mich Sie kennenzulernen. Ich habe viel von Ihnen gehört.“
„Das bezweifle ich, ich unterrichte schon seit langem nicht mehr.“
„Das ist mir bekannt. Nach der Verurteilung Ihres Sponsors Professor Dr. Mayer vor zwei Jahren, haben Sie sich aus der Archäologie vollständig zurückgezogen. Soweit ich weiß, haben Sie vor etwa 15 Jahren geschworen, nie wieder einen Hörsaal zu betreten.“
„Vor 17, um genau zu sein. Sie sind gut informiert.“
„Als ich mein Studium begann, waren Sie bereits eine Legende. Sie haben in der Geschichte, Geschichte geschrieben. Was kann ich für Sie tun?“
„Ich bin wegen Ihrer Diplomarbeit hier. Wenn es Ihnen nichts ausmacht, dann würde ich Sie gerne zum Mittagessen ausführen.“
Verlegen schielte ich auf den gigantischen Stapel Bücher. Ich würde eine Stunde brauchen, um diese einzusortieren – das bedeutete: Meine ganze Mittagspause würde drauf gehen. „Ich möchte heute Abend keine Überstunden schieben, daher kann ich Sie nicht begleiten. Es tut mir leid, Professor Bachmann. Es war schön Sie kennengelernt zu haben.“
Der ehemalige Dozent runzelte nachdenklich seine Stirn. Sein Blick musterte die Bibliothek beinahe feindselig. „Wollen Sie den Rest Ihres Lebens mit Büchereinsammeln verbringen? Oder versuchen Sie, wenigstens ein bisschen Sinn in Ihr Leben zu bringen?“
„Ich glaube nicht ...“
„Sie waren eine ausgezeichnete Studentin, Sie haben mit den besten Noten Ihr Studium absolviert. Sie galten als ein vielversprechender Nachwuchs. Mir kam zu Ohren, dass Sie an Feldforschung interessiert seien.“
„Das war bevor ich ...“ Ich stockte. Ich schuldete diesem Mann keine Rechtfertigung. „Dieser Job ist okay. Es bringt mir Geld ein, ohne dass ich mich abschinden muss. Vorerst genügt es.“, schloss ich lahm.
„In ein paar Jahren werden Sie für die Feldforschung zu alt sein, außer Sie gehören einem erfolgreichem Archäologenteam an. Ich biete Ihnen eine Chance.“
„Ich hatte in meinem Leben einige Chancen, Professor Bachmann, so viele, dass es für zwei Leben reicht.“ Mit einer forschen Bewegung blickte ich auf meine Uhr. Mittagspause! „Wenn Sie mich entschuldigen würden? Ich muss weiterarbeiten.“ Genervt packte ich so viele Bücher, wie ich nur tragen konnte, und verschwand mit ihnen hinter den Regalen.
Professor Bachmann folgte mir. „Anhand Ihrer Lebensgeschichte stellt sich mir die Frage, was Ihnen wohl als Chance vorgelegt worden ist? Ihre Kindheit? Ihre flatterhaften Freunde oder Ihre Eheschließung? Wohl kaum!“
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