HALT AUF FREIER STRECKE: Der wiederkehrende Blick auf den Baum aus Richtung des Pflegebetts wird Zug um Zug sinnbildlich aufgeladen
Immer deutlicher zeigt sich dann aber, wie unsicher und zunehmend überfordert alle sind. Irgendwann sagt Simone in ihrer Erschöpfung sogar, sie wünsche sich inzwischen, dass er bald einschlafen möge. Vorsorglich rät ihr die angesprochene Palliativärztin davon ab, Frank in ein Hospiz zu geben. Es gehe auch darum, gibt sie zu bedenken, die Kinder erleben zu lassen, dass Sterben nicht nur schrecklich sein muss, darum, ihnen diese Erinnerung in ihr Leben mitzugeben. Der Dialog mit der Ärztin markiert im Film den dramaturgischen Punkt, an dem neben der Familie noch einmal die Schwester, der Vater (Otto Mellies, besonders berührend), die Freundin aus jungen Jahren, ein befreundeter Kollege am Bett erscheinen. Wir werden Zeugen vieler kleiner, teils hilfloser, aber echter und anrührender Gesten der Nähe, die eine gute Atmosphäre, einen Kokon menschlicher Wärme schaffen, die sich auf uns überträgt, bis Frank schließlich ruhig stirbt. Auch bei diesem Film kulminieren zum Schluss – vielleicht am stärksten von allen Filmen Dresens – Momente, in denen Trauer mit Hoffnung, und mit dem Mutmachen zum Weiterleben zusammengeht. Eine Art säkularer Epiphanie. Sie wird innerhalb der Handlungswelt, durch die von Frank noch selbst erwünschte und damit bedeutungsvoll hergestellte Raumanordnung von Krankenbett und Fensterblick, der einen ausladenden Baum rahmt, visuell-metaphorisch und dabei semantisch metamorph unterstützt.
Solche besonderen Ambivalenzen, die das Ironische und das Tragische mit menschlicher Nähe und einem Schuss Utopie verbinden, wobei alles letzthin auf genau beobachteter, in der Imagination der filmischen Welt aufgehobener Realität fußt – eine Melange, die so letzthin nur das Kino herzustellen vermag. Das ist es wohl, was den Dresen-Ton ausmacht.
Ein schlanker Band wie dieser muss sich zum Prinzip des pars pro toto bekennen, sollen die einzelnen Beiträge substanziellerer Art sein. Die Auswahl der Filme, um die es in den Aufsätzen des Bandes gehen soll, ist schon aus diesem Grund auf die Kinofilme des Regisseurs konzentriert und vernachlässigt notgedrungen primär für das Fernsehen produzierte Arbeiten, wie sie vor allem in den 1990er Jahren in größerer Zahl entstanden. Aber auch nicht alle Kinofilme konnten mit längeren Betrachtungen bedacht werden. Während die Einleitung – nicht zuletzt im Bemühen um einen gewissen Ausgleich – auch auf einige wichtige Filme einging, die ansonsten nicht oder weniger stark thematisiert werden, zeigt sich, dass die daran herausgearbeiteten Charakteristika auf vielfältige Weise auch in den Filmen anklingen, die im Band näher betrachtet werden. Die Perspektiven, aus denen auf die Filme geblickt wird, sind übrigens auch vielfältig, ebenso wie der Kreis der hier Schreibenden, deren Generationszugehörigkeit und biografische wie fachliche Herkunft.
Manche Eigenart, die in der Einleitung hervorgehoben wurde, klingt auch in dem, die Reihe der Beiträge eröffnenden Interview mit Andreas Dresen vom Juli 2021 an. Eigens für unser Heft der Film-Konzepte gibt er darin Auskünfte zu Arbeitsprinzipien und seiner Art, filmische Welten zu entfalten.
Die Reihe der Aufsätze beginnt dann mit einem Text von Stefanie Mathilde Frank über Andreas Dresens Spielfilmdebüt STILLES LAND. Sie interessiert sich dafür, wie der Film mit Blick auf den Mikrokosmos eines kleinen Theaters in der Provinz das Porträt eines sehr spezifischen Diskursraums der Wende entwirft – eines Raums, der »Machtsphäre und Lebenswelt« verknüpft und auf manches in der damaligen Theaterpraxis (auch am Anklamer Theater selbst) verweist. Zugleich mache er heute aber auch viel Typisches an den Verhaltensweisen jener Zeit zwischen Verunsicherung, Kritik und Vorsicht, Aufbegehren und Anpassung erlebbar und offenbart, so Frank, wie kompliziert Geschichte ist.
Daniel Wiegand setzt sich in seiner Untersuchung mit der lange in Kritiken wiederkehrenden Redeweise vom ›Authentischen‹ auseinander, das Dresens Filme präge und – etwa durch Improvisation befördert – zur ›ungefilterten‹ Alltagsdarstellung mache. Mit der eingehenden Betrachtung ausgewählter Montage-Sequenzen aus NACHTGESTALTEN und DIE POLIZISTIN tritt er dieser Idee entgegen und arbeitet heraus, dass und wie die Filme auf genau kalkulierten, hochkomplexen Blick- und Ton/Bild-Konstruktionen basieren, die sich nahtlos der jeweiligen filmischen Erzählung und Gesamtstimmung einfügen. Zugleich wird, so Wiegand, an den gewählten Sequenzen deutlich, wie Dresens Filme auf ambivalente Weise und mit feinem Humor auch magische Momente ins Spiel bringen.
Danach befasst sich Hans J. Wulff mit Qualitäten und Eigenarten des Schauspiels von Axel Prahl, der ja eine Zeitlang, vor allem durch den Erfolg von HALBE TREPPE und WILLENBROCK, gleichsam als Gesicht der Dresen-Filme galt. Wulff denkt über dessen Bedeutung nicht nur für die Filme des Regisseurs nach, in denen Prahl die Hauptrolle spielte, sondern auch über kleinere und dennoch nachhaltig im Gedächtnis haftende Nebenrollenauftritte von NACHTGESTALTEN (1999) bis GUNDERMANN (2018). Verschiedenes tritt dabei hervor: Die musikalischen Qualitäten seines Spiels, die Meisterschaft auch des Chargen-Auftritts und ein Schauspieler, der bei jüngeren Filmen das inzwischen etablierte Rollenkorsett des TATORT-Kommissars überschreitet …
Selina Hangartner widmet sich schließlich dem Dokumentarfilm HERR WICHMANN VON DER CDU (2003/04), dem ersten der beiden Wichmann-Filme. Er entwirft eine Art Wahlkampfporträt des jungen Politikers, der in der uckermärkischen Provinz mit unerschütterlichem Willen und Einsatz, mit wenig Erfahrung, gelegentlichem Übereifer und auch einem Schuss Eitelkeit mit den Anforderungen, Erwartungen und Ritualen des Wahlkampfs ringt. Selbst der Wind scheint nicht auf seiner Seite. Aus einer gewissen – teils auch kritischen – Distanz betrachtet, und durch die von Hangartner beobachteten narrativen Techniken filmischer Ironisierung forciert, treten an der alltäglichen Praxis dieses Wahlkampfs auch groteske Momente hervor, und dennoch verweigert der Film dem jungen Wahlkämpfer letztlich nicht den Respekt. Ein Fall von schwebender Ambivalenz, die in Dresens Kino immer wieder anzutreffen ist.
Andreas Kötzing geht mit Blick auf ALS WIR TRÄUMTEN (2015) der Inszenierung der Wende- und Nachwendezeit mit ihren speziellen Widersprüchen zwischen Aufbruchsstimmung und Resignation nach. Gerade für Jugendliche, die erst im Umbruch die Schule verlassen haben und in der plötzlich völlig veränderten Realität, in der die alten Autoritäten und Regeln nichts mehr galten, nach Orientierung suchten, hielt diese Zeit besondere Herausforderungen bereit. Mit knappen Seitenblicken auf ostdeutsche Filme, die unmittelbar nach 1990 gedreht wurden, nicht nur von Dresen, vor allem aber auf dessen KUCKUCKSKINDER (1994), konturiert Kötzing an ALS WIR TRÄUMTEN mehr Kontinuitäten als Verschiebungen. Der Film, der die Verwerfungen der Zeit im Drang der porträtierten Jugendlichen, sich über alle Regeln hinwegzusetzen, reflektiert, erweist sich, so Kötzing, als erneuerter Beleg für Andreas Dresens Vorliebe für Figuren, deren Wünsche und Hoffnungen sich nicht erfüllen, die sich aber nicht entmutigen lassen.
Die Filmografie im Anhang des Bandes ist diesmal etwas umfassender als üblich gestaltet. Durch die Einbeziehung der Namen, die für Drehbuch, Kamera, Schnitt und wo dies zutrifft auch für Musik stehen, wird nachvollziehbar, dass in Dresens Filmen nicht nur vor der Kamera Schauspielerinnen und Schauspieler häufiger wieder auftauchen, sondern dass auch hinter der Kamera die Vorliebe zum Team groß ist. Auch das trägt sicherlich zur charakteristischen Tonart der Filme bei.
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