Der großgewachsene Journalist hatte im Laufe der Jahre viele verschiedene Sportarten ausprobiert, aber vorher noch nie geboxt. Dennoch fühlte er sich in guter körperlicher Verfassung, nachdem er erst kurz zuvor sein Studium an der Columbia University in New York abgeschlossen und dort vier Jahre lang im Achter der Rudermannschaft gesessen hatte. Das sollte sich in der Vorbereitung auf eine Runde mit einem Box-Champion von Format als unzureichend herausstellen. Die Lektion war hart und unmissverständlich, aber ihr Erkenntniswert ließ sich selbst einem unerfahrenen Publikum nahe bringen: „Ich habe herausgefunden“, schrieb Gallico, „dass ein Boxer – so wie ein Soldat im Krieg, der nie die Kugel hört, die ihn umbringt – nicht den Schwinger sieht, der ihn mit einem Mantel aus Dunkelheit bedeckt und für ein Gefühl sorgt, das so wirkt, als würde die Schädeldecke explodieren. Und das einem alle Sinne raubt.“
Sein Experiment, als ungeübter Skifahrer 1936 den olympischen Abfahrtshang am Kreuzeck in Garmisch-Partenkirchen auszuprobieren, war kein minder dramatisches Erlebnis. Als er bei einem Sturz auf halber Strecke auf einer engen Passage direkt neben einer Kante landete, von der der Hang fast senkrecht 600 Meter in die Tiefe abfiel, hatte er „so viel Angst wie noch nie“. Irgendwie schaffte er es „auf wundersame Weise unverletzt“ bis ins Ziel und kam so auch hier zu einer wichtigen Erkenntnis: Bei den Abfahrern handele es sich um „eine großartige Gruppe von Sportlern, die die Bedeutung des Wortes ‚Furcht‘ nicht kannten“. 6
Es wäre übertrieben zu verlangen, jeder „schräge Vogel im Zeitungszoo“ (und in den elektronischen Medien von heute) möge sich so unmittelbar wie Gallico mit der jeweiligen Sache auseinandersetzen. Immerhin haben es einige getan und auf diese Weise ihren Lesern das Milieu näher gebracht. So wie der Schriftsteller George Plimpton, als er sich der körperlich herben Erfahrung von Football-Profis auslieferte 7. Oder der Journalist Steven Fatsis, der Jahrzehnte später etwas Ähnliches probierte 8. Und was mit dem Blick auf die besondere Rolle einer klassischen Figur im Golfsport auch die Herangehensweise von Rick Reilly ausmacht. Er übernahm den Job des Caddies für prominente Spieler wie Jack Nicklaus, David Duval, Tom Lehman und John Daly. 9
Er hatte in der Vorbereitung auf das Buch übrigens auch einen Einsatz an der Seite von Donald Trump, ehe der Präsident der Vereinigten Staaten wurde. Das floss in ein späteres Buch ein 10, das auch auf Deutsch erschien.
Als wir uns darüber unterhielten, bestätigte er eine alte Weisheit aus dem Golfspiel, wonach es den wahren Charakter von Menschen offenlegt, vor allem den von krankhaften Narzissten und notorischen Lügnern: „Auf der Runde hat er sich bestimmt sieben Mulligans zugestanden. Fehlschläge, die er nicht mitgezählt hat. Er hat vor einem Grün den Ball aufgehoben und behauptet, den Schlag hätte er garantiert eingelocht. Seine Caddies haben extra Holzstifte dabei, sogenannte Tees, mit denen er im tiefen Gras neben dem Fairway den Ball höher legen kann. Und sie legen Bälle an Stellen aus, von denen er viel besser weiterspielen kann.“
Allesamt klare Regelverstöße übrigens.
Gleichzeitig muss es erlaubt sein zu fragen, weshalb es nur sehr selten passiert. Denn den Porträts einer Welt mit Menschen im Zentrum, die im Laufe ihrer Karriere durch ein ganzes Kaleidoskop von Belastungen und Entbehrungen, Verletzungen an Körper und Seele und emotionale Hochs und Tiefs gehen, fehlt ohne einen Zugang zu diesen Erfahrungen etwas Wesentliches. Es mangelt an Augenhöhe.
Die über viele Jahre gesammelte Erfahrung lehrt übrigens, dass dies von den Beteiligten meist gar nicht als Defizit wahrgenommen wird. Eine regelmäßige gründlichere Auseinandersetzung mit sich selbst, das stellt sich bei ausführlicheren Gesprächen heraus, vermissen nur wenige Sportler. Oder sie gehen gleich so weit und verlangen ein Mitspracherecht bei der detaillierten Gestaltung der Berichterstattung. 11Sie versuchen, Journalisten zu Mitwirkenden in ihrem PR- und Propagandatheater zu machen.
Und die Medienmenschen? Viele empfinden Distanz als professionell, Annäherung als schwierig oder sogar kontraproduktiv. Auf eine Ich-Geschichte und die damit verbundene sich selbst zugemessene Rolle des Protagonisten verspüren sie kaum Appetit. Anders als ein Schriftsteller wie Norman Mailer in seinem Buch The Fight 12über den Kampf zwischen Muhammad Ali und George Foreman im Oktober 1974 in Kinshasa (dem Rumble in the Jungle ). Er nutzte den persönlichen Blickwinkel, um das Ereignis über den rein sportlichen Gehalt hinaus in einen größeren Zusammenhang zu stellen. Als Stilmittel geht er darin so weit, dass er auch über sich selbst spricht, wenn auch in der dritten Person Singular, was gespreizt klingt. Zitat: „Nun, unser weiser Mann besaß ein Laster. Er schrieb über sich selbst. Er beschrieb nicht nur die Ereignisse, die er sah, sondern auch seinen eigenen, kleinen Einfluss auf die Ereignisse.“
Eine solche Vereinahmung des Mythenrservoirs des Boxens, des Kampfs gegen sich selbst mit der Aussicht auf Erfolg und sozialen Aufstieg, die eine Zuneigung zum männlichen Authentizitätskult intellektuell überhöht 13, illustriert, wie viele unterschiedliche Ansatzmöglichkeiten es gibt, „die Sozialfigur des Sporthelden in postheroischen Zeiten zu durchleuchten und die im Spitzensport vorfindbare Heroisierungspraxis auf ihre soziale Konstruiertheit hin zu befragen“, wie das der Sportwissenschaftler Professor Dr. Karl-Heinrich Bette in seinem Buch Sporthelden – Spitzensport in postheroischen Zeiten formuliert hat. 14
Es ist eine Aufgabe, die ich mir selbst auch immer wieder stelle und die zu einem Leitmotiv für dieses Buch geworden ist, in dem es nicht nur ums Durchleuchten und Befragen geht. Sondern auch darum, sich das Vorgefundene einzuverleiben, wie das der wegen seiner Interviews bewunderte Fernsehmann und Dokumentarist Georg Stefan Troller häufiger genannt hat 15. Und der dies unter anderem 1974 in seinem Halbstünder vor dem zweiten von drei Kämpfen zwischen Joe Frazier und Muhammad Ali ( Personenbeschreibung: Muhammad Ali – Der lange Weg zurück ) auch mit einem Thema aus dem Sport eindrucksvoll demonstriert hat.
Wo das nicht geschieht, so hat der Journalist Bertram Job, Autor einer sehr empfehlenswerten Box-Anthologie 16, mal vor einiger Zeit in einem Artikel in der taz geklagt, entsteht eine nicht zu übersehende Lücke: „Es ist immer das gleiche mit den Sportschreibern in diesem Land. Die affirmativ sind, kleben unkritisch an den Helden; die kritisch sind, wollen sich keine Affirmation leisten. Und an der Schnittstelle zwischen beiden liegt – Brachland.“ 17
Dieses Brachland ließe sich durchaus urbar machen und auf diese Weise gegen den allgemeinen Trend zum Clickbait-, Klatsch- und Kontroverse-Spektakel antreten. 18Denn fraglos bietet selbst der aalglatte, durchgetaktete, kommerzielle Sport von heute mannigfachen und ausgesprochen guten Stoff. Mehr als jene innere Spannung, die einen erfasst, wenn man eine olympische Rodelbahn hinabschlittert, in Kitzbühel auf eigenen Skiern die Hahnenkamm-Abfahrt attackiert, auf einem Polopferd – die eine Hand am Zügel, die andere mit dem Schläger bewaffnet – im Galopp dem kleinen Ball hinterherjagt oder ein paar Minuten vor dem Start eines Automobilrennens in Indianapolis zwischen den dröhnenden Boliden steht und in Richtung erste Kurve schaut. Mehr als die gängigen Denkschablonen und Plattitüden, die sich in der Sprache der Medienarbeiter festgesetzt haben. Mehr als die nervig klappernde Mühle mit ihren Transfergerüchten über irgendwelche Fußballer. Mehr als den Versuch, ein „Schlangennest aus sich bekämpfenden Interessen und Egos“ von Trainern, Agenten, Clubs und Sponsoren abzubilden, was nicht nur der britische Journalist Oliver Franklin-Wallis missbilligt 19. Und mehr als die eine oder andere Geschichte, die erzählt, was hinter den Kulissen, beim Training, in den Vertragsverhandlungen, beim Doping-Doktor oder in einem Gerichtssaal passiert, in dem ein ungeimpfter Tennisspieler seine Einreise in ein fremdes Land einzuklagen versucht.
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