Knut verschwand im Dunkel, um den Mann zu holen. Als eine Zeit verging, ohne daß die beiden zurückkamen, riefen wir ihm nach. Ein gackernder Chor von Polynesiern war die einzige Antwort. Knut war in der Dunkelheit verschwunden. Im gleichen Augenblick begriffen wir, was geschehen war. In all dem Aufruhr, Lärm und Wirbel hatte Knut den Bescheid mißverstanden und war mit dem Eingeborenen zum Land gerudert. Wie wir auch riefen, es war nutzlos. Dort, wo Knut jetzt war, wurde alles vom Donnern der Brandung übertönt.
Eilig suchten wir die Morselampe heraus. Ein Mann kroch in die Mastspitze und signalisierte: »Komm zurück! Komm zurück!«
Aber niemand kam. Da jetzt zwei Mann fehlten, weil einer ständig in der Mastspitze saß und signalisierte, vermehrte sich die Abtrift, und wir anderen begannen wirklich müde zu werden. Wir warfen Seemarken aus und sahen, daß es langsam, aber sicher, nach rückwärts ging. Das Feuer wurde kleiner und das Brüllen der Brandung bescheidener. Je weiter wir aus dem Schütze der Palmenwälder herauskamen, desto besser konnte uns der ewige Ostwind packen. Wir erkannten ihn wieder, nun war es bald wie draußen auf dem Meer. Aber wir durften nicht aufhören zu paddeln. Wir mußten die Abtrift mit all unserer Kraft bremsen, bis Knut wieder heil an Bord war.
Fünf Minuten vergingen, zehn Minuten, eine halbe Stunde, das Feuer wurde kleiner, ab und zu verschwand es vollständig, wenn wir selbst in ein Wogental glitten. Die Brandung wurde ein fernes Grollen.
Nun kam der Mond herauf. Wir sahen, wie die Mondscheibe hinter den Palmenkronen an Land erglänzte, aber der Himmel war diesig und halb bewölkt.
Wir hörten, wie die Eingeborenen zu murmeln und zu beraten begannen. Plötzlich merkten wir, daß eines von den Kanus sein Tau in See warf und verschwand. Die Mannschaften der drei anderen Kanus waren müde und ängstlich und legten sich nicht mehr mit voller Kraft in die Riemen. Die »Kon-Tiki« trieb hinaus auf das offene Meer. Bald wurden auch die drei anderen Taue schlaff, und die Kanus stießen gegen die Kante des Floßes. Einer der Eingeborenen kam an Bord und sagte ruhig mit einer Kopfbewegung: »Juta« - gegen Land.
Er sah bekümmert gegen das Feuer, das jetzt jedesmal lang verschwunden war, und nur ab und zu wie ein Funken hervortanzte. Wir trieben davon. Die Brandung war verstummt, nur die See brauste wie früher, und es knirschte und schrie in allen Tauen.
Wir gaben den Eingeborenen reichlich Zigaretten mit. In aller Eile kritzelte ich einen Zettel voll. Sie sollten ihn mitnehmen und Knut geben, wenn sie ihn fanden. Darauf stand geschrieben:
»Nimm zwei Eingeborene mit im Kanu und das Gummiboot im Schlepp. Komm nicht allein im Gummiboot zurück!«
Wir rechneten damit, daß die hilfsbereiten Insulaner Knut im Kanu mitnehmen würden, wenn sie es ratsam fanden, hinauszufahren. Fanden sie es nicht ratsam, so war es Wahnwitz, wenn Knut sich allein im Gummiboot aufs offene Meer wagte, in der schwachen Hoffnung, das ausreißerische Floß wieder einzuholen. Die Eingeborenen ergriffen den Zettel, sprangen in die Kanus und verschwanden in der Nacht. Das letzte, was wir hörten, war eine durchdringende Stimme, die draußen im Dunkel rief:
»Good night!«
Wir hörten noch ein anerkennendes Gemurmel von den weniger Sprachkundigen, dann war wieder alles still und frei von fremden Lauten wie in der Zeit, als wir tausend Seemeilen vom nächsten Land waren. Es war sinnlos für uns vier, unter vollem Winddruck hier draußen auf dem offenen Meer noch mit den Paddelrudern zu arbeiten, aber wir setzten die Lichtsignale von der Mastspitze fort. Wir wagten nicht länger »Komm zurück!« zu morsen, wir gaben nur mehr gleichmäßige Blinksignale. Es war stockfinster. Der Mond kam nur in vereinzelten Augenblicken durch die Wolkenschichten hervor. Wir mußten Angataus Kumulonimbuswolke über uns haben.
Schlag zehn gaben wir die letzte kleine Hoffnung auf, Knut wiederzusehen. Wir setzten uns stumm auf die Floßkante und knabberten ein paar Kekse. Immer noch gaben wir abwechselnd Blinksignale von der kahlen Mastspitze, die sich ohne das breite Kon-Tiki-Segel so leer über uns spreizte.
Wir beschlossen, die Blinksignale die ganze Nacht lang fortzusetzen, solange wir nicht wußten, wo Knut sich befand. Wir weigerten uns, zu glauben, daß die Brandungswellen ihn ereilt hätten. Knut kam immer wieder auf die Füße - gefährliches Wasser oder Brandung -, am Leben war er auf alle Fälle. Es war nur so ein verfluchtes Gefühl, ihn zwischen den Braunen auf einer einsamen Insel hier draußen im Stillen Ozean sitzenzulassen. Etwas so Saudummes, die ganze lange Reise waren wir mit einem blauen Auge davongekommen, und jetzt ließen wir einen Mann auf einer vergessenen Südseeinsel zurück, um wieder weiterzufahren. Und kaum waren die ersten Polynesier freundlich lächelnd an Bord gekommen, mußten sie schon Hals über Kopf stiften gehen, um nicht selbst mitgeschleppt zu werden auf »Kon-Tikis« böser und gnadenloser Jagd nach Westen. Es war eine verfluchte Situation. Es sehne häßlich aus dem Tauwerk in dieser Nacht, keiner von uns machte Anstalten, schlafen zu wollen.
Es war halb elf geworden. Bengt kletterte gerade die Wanten herunter, um Ablösung auf der wiegenden Mastspitze zu bekommen. Da fuhren wir alle Mann hoch. Wir hatten deutlich draußen auf dem Meer im Dunkeln Stimmen gehört. Und da war es wieder: es waren Polynesier, die da redeten. Wir schrien aus Leibeskräften hinaus in die schwarze Nacht. Da schrie es zurück - und Knuts Stimme war darunter. Ich weiß nicht, was wir nicht alles vor Begeisterung getan hätten, die Müdigkeit war fort, die ganze Unglückswolke über unserem Haupt war verschwunden. Was tat es uns, wenn wir von Angatau davon trieben, es gab Inseln genug im Meer. Jetzt konnten die neun reiselustigen Balsastämme treiben, wohin sie wollten, wenn sie uns nur alle sechs an Bord beisammen hatten.
Drei Auslegerkanus kamen aus dem Dunkel über die Wogen geritten. Knut war der erste, der auf die liebe alte »Kon-Tiki« herübersprang, gefolgt von sechs Braunen. Es war wenig Zeit zu Erklärungen. Die Eingeborenen mußten ihre Geschenke bekommen und wieder losziehen auf ihre waghalsige Fahrt zurück zur Insel. Ohne Licht oder Land zu sehen, ja kaum noch die Sterne, mußten sie vorsichtig gegen Wogen und Wind paddeln, bis sie das Licht des brennenden Holzstoßes sahen. Wir belohnten sie reichlich mit Proviant, Zigaretten und anderen Geschenken, und jeder von ihnen schüttelte uns bewegt die Hand zu einem letzten Lebewohl.
Sie waren sichtlich bekümmert über unsere Wege und zeigten gegen Westen, daß wir auf dem Weg in gefährliche Riffe wären. Ihr Anführer hatte Tränen in den Augen und küßte mich gerührt aufs Kinn, daß ich der Vorsehung für meinen Vollbart dankte. Dann krochen sie auf ihre Kanus, und wir sechs Kameraden saßen wieder vollzählig und allein auf dem Floß.
Wir überließen es seinen Launen und hörten uns Knuts Geschichte an.
Knut hatte sich im Schlauchboot im guten Glauben landwärts begeben, mit dem Anführer der Eingeborenen an Bord. Der saß selbst an den kleinen Paddeln und ruderte auf die Öffnung im Riff zu, als Knut zu seiner Verwunderung die Lichtsignale der »Kon-Tiki« sah, die ihn baten, zurückzukommen. Er machte dem braunen Ruderer Zeichen, er solle wenden, aber der Polynesier weigerte sich, zu gehorchen. Knut griff jetzt selbst in die Ruder, aber der Insulaner riß ihm die Hände weg, während das Riff um sie herum im Dunkeln toste. Es war sinnlos, einen Kampf aufzunehmen. Sie waren davongetanzt, genau durch die Öffnung im Riff, und setzten auf der Innenseite ihren Weg fort, bis sie direkt hinauf auf einen soliden Korallenblock innen auf der Insel geschleudert wurden. Ein Schwärm von Eingeborenen packte das Schlauchboot und zog es weit an Land. Und hier stand Knut allein unter Palmen, umgeben von einem gewaltigen Haufen von Eingeborenen, die in einer Sprache darauflosplapperten, die er nicht verstand. Braune und barfüßige Männer, Frauen und Kinder in allen Altersstufen umschwärmten ihn und befühlten den Stoff seines Hemdes und seiner Hose. Sie selbst hatten alte und zerfetzte europäische Kleider, aber es war kein Weißer auf der Insel.
Читать дальше