Auf dem Riff liegt die „Kon-Tiki" viele Tage lang, während die Wellen das Wrack ständig weiter den Strand hinaufschieben.
Bei Tagesgrauen, kurz vor sechs, kam Torstein von der Mastspitze heruntergefahren. In der Ferne konnte er eine ganze Reihe von kleinen Palmeninseln vor uns sehen. Als erstes warfen wir das Ruder nach Süden herum, soweit wir konnten. Was Torstein gesehen hatte, mußten die kleinen Koralleninseln sein, die, wie Perlen auf einer Schnur aufgefädelt, hinter dem Raroiariff liegen. Ein nordgehender Strom mußte uns wieder ergriffen haben.
Schlag halb acht waren kleine Palmeninseln in Reih und Glied entlang des ganzen westlichen Horizonts aufgetaucht. Auf die südlichste wies unser Bug, und von hier setzten sich Inseln und Palmenhaine über den ganzen Meeressaum auf Steuerbord fort, bis sie wie Punkte oben im Norden verschwanden. Die nächsten lagen vier bis fünf Seemeilen entfernt.
Ein einziger Überblick von der Mastspitze verriet, daß, sogar wenn der Bug gegen die unterste Insel in der Reihe zeigte, die Seitentrift so groß war, daß wir uns nicht in der Richtung des Buges vorwärts bewegten. Wir trieben schräg mitten auf das Riff zu. Mit straffen Senkkielen hätten wir noch Hoffnung gehabt, vorbeizusteuern, aber Haie folgten uns dicht auf den Fersen, so daß es unmöglich war, unter das Floß zu tauchen und die lockeren Senkkiele mit neuen Pardunen zu versteifen.
Wir sahen ein, daß wir nur mehr ein paar Stunden auf der »Kon-Tiki« übrig hatten. Die mußten verwendet werden, um uns auf unsere unvermeidliche Havarie am Korallenriff vorzubereiten. Jedermann bekam Anweisung, was er zu tun hatte, wenn der Augenblick da war, jeder einzelne von uns wußte, wofür er verantwortlich war, so daß wir nicht herumfahren und uns auf die Zehen treten konnten, wenn der Zeitpunkt kam, in dem die Sekunden zählten. Die »Kon-Tiki« schaukelte im Wind, der uns langsam hinüberdrückte. Es war kein Zweifel, daß hier, wo die Wogen vom ohnmächtigen Schlag gegen die Ringmauern zurückprallten, ein höllisches Chaos auf uns wartete.
Wir lagen noch immer unter vollen Segeln, in der Hoffnung, dennoch vorbeisteuern zu können. Wie wir so langsam halbseitlich nähertrieben, sahen wir vom Mast, wie die ganze Perlenreihe durch ein teilweise überseeisches und teilweise unterseeisches Korallenriff zusammenhing. Wie vor einer Mole stand das Meer weißschäumend auf und sprang hoch gegen den Himmel empor. Das Ringriff von Raroia ist oval und hat einen Durchmesser von 40 Kilometer, die ganze Langseite wendet sich gegen das Meer im Osten, woher wir angeschaukelt kamen. Das Riff selbst, das sich von Horizont zu Horizont zieht, ist nur wenige hundert Meter breit, und dahinter liegen idyllische kleine Inseln in Reih und Glied um die stille Lagune in der Mitte.
Wir sahen mit gemischten Gefühlen, wie der blaue Pazifik rücksichtslos aufgerissen entlang unseres ganzen Gesichtsfeldes in die Luft zischte. Ich wußte, was wir da drinnen zu erwarten hatten. Ich hatte schon früher einmal die Tuamotugruppe besucht. Damals war ich sicher an Land gestanden und hatte den mächtigen Anblick im Osten bewundert, wo die Brandung des offenen Ozeans über das Riff hereinbrach. Nach und nach tauchten immer neue Riffe und Inseln auf, bis weit hinunter nach Süden. Wir mußten wohl mitten vor der Front der ganzen Korallenmauer liegen.
An Bord der »Kon-Tiki« stand alles im Zeichen des Aufbruchs. Was einigermaßen von Wert war, wurde in die Hütte hineingetragen und festgebunden. Dokumente und Papiere wurden in wasserdichte Hüllen verpackt, da hinein verschwanden auch Filme und alles andere, was ein Seebad nicht aushielt. Die ganze Bambushütte wurde mit Segeltuch bedeckt und besonders solide Taue wurden darüber festgezurrt. Da wir sahen, daß wir jenseits aller Hoffnung waren, öffneten wir das Bambusdeck mit Machetenmessern und zerhieben alles Tauwerk, das die Senkkiele hinunterhielt. Es war eine schwere und mühevolle Arbeit, diese Schwerter heraufzubekommen, denn alle waren dicht mit fetten Entenmuscheln besetzt. So reichte das Floß nicht tiefer als bis zum Boden der Baumstämme. Wir würden deshalb leichter über das Riff hineingeschoben werden. Ohne Senkkiel und mit gestrichenem Segel trieb das Floß ganz nach der Seite und war eine leichte Beute für Wind und Wellen.
Wir banden das längste Tau, das wir hatten, an unseren hausgemachten Anker und befestigten es am Fuß des Backbordmastes. So mußte die »Kon-Tiki« mit dem Heck voran in die Brandungswellen hineintreiben, wenn man den Anker über Bord warf. Der Anker selbst bestand aus leeren Wasserkanistern, gefüllt mit gebrauchten Radiobatterien und einer Sammlung unseres schwersten Plunders. Außerdem streckte er kreuz und quer solide Pfähle aus Eisenholz vor.
Vorschrift Nummer eins, das A und O war: Halte dich am Floß fest! Was immer auch geschah, wir mußten uns an Bord anklammern und die neun großen Stämme den Anprall des Riffes aufnehmen lassen. Wir selbst hatten mehr als genug mit dem Wasserdruck zu tun. Über Bord springen bedeutete ein hilfloses Opfer der Brandung zu werden, die uns hinein und heraus über die scharfen Korallen schleudern würde. Das Gummifloß würde rasch in den steilen Wasserwänden umgeworfen werden, und schwer beladen mit uns, würde es auch am Riff in Fetzen zerrissen werden. Aber die Baumstämme würden früher oder später an Land hinaufgeschleudert - und wir mit ihnen, wenn es uns nur glückte, uns festzuklammern.
Zweitens bekamen alle Mann Anweisung, zum ersten Mal nach hundert Tagen Schuhe an die Füße zu ziehen; gleichzeitig auch die Schwimmwesten klarzumachen. Das letzte war trotz allem von geringerem Wert, denn würde einer über Bord geschleudert, würde er erdrückt und nicht ertränkt werden. Es war genügend Zeit, daß wir jeder unseren Paß zu uns steckten, ebenso das wenige, was wir an Dollars übrig hatten. Vorläufig war es nicht der Zeitmangel, der unsere Probleme schuf.
Es waren spannende Stunden, in denen wir so lagen und seitlich nach und nach auf das Riff zutrieben. An Bord herrschte auffallende Ruhe. Ja, stumm und wortkarg krochen wir alle ein und aus zwischen Hütte und Bambusdeck und erledigten unsere Angelegenheiten. Die ernsten Gesichter zeigten, daß keiner im Zweifel war, was wir zu erwarten hatten. Und der Mangel an Nervosität bewies, daß alle im Lauf der Ereignisse ein unwandelbares Vertrauen zum Floß bekommen hatten. Es hatte das Meer überstanden, es würde ihm wohl auch gelingen, uns lebend an Land zu bringen.
Im Inneren der Hütte war ein einziges Chaos von Proviantkartons und festgezurrter Last. Torstein hatte halbwegs in seinem Radiowinkel Platz behalten, wo er den Kurzwellensender glücklich in Gang gesetzt hatte. Wir waren jetzt 8000 Kilometer von unserer alten Basis in Callao, wo die Seekriegsschule ständig Verbindung mit uns aufrechterhielt, und noch weiter waren wir von den Amateuren in den Vereinigten Staaten entfernt. Der Zufall wollte aber, daß wir am Tag vorher Verbindung mit einem tüchtigen Radioamateur bekommen hatten, der mit seiner Station auf Rarotonga in den Cookinseln saß. Mit ihm hatten die Funker ganz im Gegensatz zu aller gewöhnlichen Praxis eine Sonderverbindung im Morgengrauen verabredet. Und während wir nun näher und näher herein gegen das Riff trieben, saß Torstein unverdrossen und hämmerte auf seine Taste, um Rarotonga zu rufen.
Um 8.15 Uhr steht im »Kon-Tiki« Logbuch:
»Wir nähern uns langsam dem Land. Wir können jetzt mit bloßem Auge die einzelnen Palmen vor uns auf der Steuerbordseite unterscheiden.«
8.45 Uhr:
»Der Wind hat sich in eine für uns noch ungünstigere Richtung gedreht, wir haben keine Hoffnung mehr, vorbeizutreiben. Keine Nervosität an Bord, aber fieberhafte Vorbereitungen auf Deck. Innen am Riff vor uns liegt etwas, was aussieht wie das Wrack eines Segelkutters, aber vielleicht ist es nur ein Bündel Treibholz.«
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