Der Mann und die Frau hatten schlohweiße Haare und hellblaue Augen. Sie trugen Kleider, die ungefähr vor einem Jahrzehnt modisch gewesen waren. Der alte Mann hielt mit den Knien einen Gehstock, auf dem er sich abstützte, während die Frau die Hände im Schoß gefaltet hatte.
»Das mit Ihren Sitzen tut mir leid«, entschuldigte Indy sich für die abfärbenden Tomatenflecken.
»Keine Sorge«, meinte die Frau. »Sebastian kriegt sie wieder sauber, da bin ich mir sicher. Er wurde in der Vergangenheit schon mit viel schwierigeren Dingen fertig.«
»Sebastian?« fragte Indy. »Ist das Ihr Mann?«
»O nein, unser Fahrer«, antwortete ihm der Mann. »Obwohl er für uns mehr ein Sohn als ein Dienstbote ist. Ich bin Nicholas, und das hier ist Perenelle. Oh, es ist nicht nötig, daß Sie sich uns vorstellen. Wir wissen, wer Sie sind.«
Indys Miene hellte sich auf.
»Dann haben Sie von mir gehört?«
»Um ehrlich zu sein, wir haben Ihre Karriere genauestens verfolgt«, gestand er mit einem Augenzwinkern. »Und da mußten wir einfach anhalten, als wir Sie auf der Straße entdeckten. Und diese charmante junge Dame, Dr. Jones. Sie muß Ihre Verlobte sein, denn ich kann mich nicht erinnern, etwas über eine Hochzeit gelesen zu haben.«
Alecia stellte sich ihnen vor.
»Wir sind nicht verlobt«, erzählte sie. »Wir kennen uns erst seit ein paar Tagen. Mir kommt es allerdings wie mehrere Jahre vor. Ich denke, man könnte uns als Freunde bezeichnen.«
»Das ist gut«, fand die alte Frau. »Die Welt braucht mehr Freunde, meinen Sie nicht? Bleiben Sie Freunde, und der Rest wird sich wie von selbst ergeben.«
»Ja«, sagte Alecia. »Das denke ich auch.«
»Ihre Arbeit interessiert mich sehr, müssen Sie wissen», wandte sich der alte Mann an Indy. »Je mehr wir über unsere Vergangenheit erfahren, desto mehr lernen wir über uns selbst. In Wirklichkeit gibt es nichts Neues. Alles ist schon mal dagewesen, zu der einen oder anderen Zeit. Stimmen Sie mir zu?«
»Bis zu einem gewissen Grad«, sagte Indy vorsichtig.
»Nein, nicht nur bis zu einem bestimmten Grad«, entgegnete der Mann hartnäckig. »Imperien stürzen, Städte gehen unter. Die Jugend ist vergänglich und verblaßt schnell. Aber die menschliche Seele ist immer die gleiche. Das Wichtige ist nicht das Ziel, sondern die Reise. Reichtum ist nur dann von Wert, wenn man ihn einsetzt, um anderen Gutes zu tun. Wie es schon in der Bibel steht, welchen Sinn macht es, wenn ein Mann die ganze Welt erobert, nur um die eigene Seele zu verlieren?«
Indy warf Alecia einen Blick von der Seite zu.
»Die Welt sieht sich mit einer schrecklichen Macht konfrontiert, die sie nicht versteht«, sagte der alte Herr, während seine blauen Augen plötzlich leuchteten. Je länger er sprach, desto jünger schien er zu werden. »Gott hat uns erschaffen. Wir sind keine Engel, aber in jedem von uns steckt ein Funken Göttliches. Doch mit der Macht kommt die Verantwortung. Wir haben die freie Wahl. Wir können aus dieser Welt ein Paradies machen oder sie in eine Hölle auf Erden verwandeln.«
»Sir«, fragte Indy, »wovon genau sprechen Sie eigentlich?«
»Von nichts«, erwiderte der alte Mann. »Von allem. Mit jeder Entscheidung, die wir fällen, neigt sich die Waagschale ein wenig in die eine oder in die andere Richtung.«
»Nicholas«, ermahnte die Frau ihren Gatten.
»Verzeihung«, sagte er und wirkte auf einen Schlag wieder uralt. »Ich hatte nicht vor, Sie mit dem Geschwätz eines närrischen alten Mannes zu behelligen.«
»Sie behelligen mich nicht«, sagte Indy.
Da streckte der alte Herr unvermittelt seine Hand aus und klopfte Indy väterlich aufs Knie. »Ich weiß, Sie tun Ihr Bestes«, sagte er. »Bleiben Sie nur mit beiden Beinen auf dem Boden, dann wird es Ihnen immer gutgehen. Und das wertvollste Gut auf dieser Welt ist nicht Gold, auch nicht Macht oder Ruhm, sondern die Liebe. Ist es nicht so?«
Die Limousine hielt an.
»Wir sind da«, rief die Frau.
»Wo denn?« fragte Alecia.
»Was ... im Vatikan natürlich«, verriet ihr die Frau. »Sie sagten doch, Sie möchten Ihren Freund aus Amerika besuchen, nicht wahr? Nun, er verbringt hier einen Großteil seiner Zeit damit, über verstaubten Akten zu brüten. Richten Sie ihm bitte von uns aus, daß er öfter mal nach draußen gehen sollte, ja?«
»Aber sicher«, versprach Indy.
Sebastian öffnete den Wagenschlag.
»Auf Wiedersehen«, verabschiedete sich der alte Mann. »Und gehen Sie mit Gott.«
»An Ihrer Stelle würde ich mir ein Paar Schuhe zulegen«, riet ihm die alte Frau. »Sie werden sich noch erkälten, wenn Sie in dieser Kälte nur in Strümpfen herumlaufen.«
Und schon war die Limousine verschwunden.
Indy und Alecia betraten Vatikan-Stadt durch das Tor der Heiligen Anna und gingen die kurvige Straße zum Belvedere-Hof hinunter. Am Fuß der Treppe, die zur Bibliothek des Vatikans hochführte, neben der Statue des Gegenpapstes Hippolytus aus dem 3. Jahrhundert, erkundigte sich ein Mitglied der Schweizer Garde in blaugelber Uniform nach dem Grund ihres Kommens.
»Wir möchten Professor Morey sehen«, sagte Indy. »Ich bin ein Kollege von der Princeton University.«
»Er befindet sich in den Geheimarchiven«, erwiderte der Guard in makellosem Englisch. »Sie sind im Turm der Winde untergebracht. Aber dafür brauchen Sie eine Erlaubnis vom Präfekten.«
»Nein«, sagte Alecia. Sie strich eine Haarlocke aus den Augen und fixierte ihn mit ihrem Blick. »Wir haben keinen Ausweis. Aber falls Dr. Morey eine Erlaubnis erhalten hat, ist es uns doch sicherlich gestattet, ihn dort zu besuchen.«
Der Guard blinzelte, als hätte er gerade etwas Wichtiges vergessen.
»Der Turm der Winde«, wiederholte er.
»Ja, danke«, sagte Alecia.
Zusammen mit Indy stieg sie die Stufen hoch. Der Wachposten regte sich nicht von der Stelle.
»Wie hast du das angestellt?« wollte Indy wissen.
»Was angestellt?« fragte sie unschuldig. »Warum nennt man es Geheimarchiv, wenn man Besuchern Ausweise gibt und die Erlaubnis erteilt, darin herumzustöbern?«
»Das Archiv war jahrhundertelang geheim«, führte Indy aus. »Darin untergebracht sind die persönlichen Archive der Päpste, die erst im Jahre 1881 der Öffentlichkeit zugänglich gemacht wurden. Journalisten und Fotografen dürfen immer noch nicht hinein.«
»Wieviel Material liegt da?«
»Das kann niemand mit Sicherheit sagen. Das Archiv hat kein vernünftiges Schlagwortregister. Ich weiß nur, daß es dort siebeneinhalb Meilen Regal mit Tonnen von Material gibt. Morey ist seit Jahren damit beschäftigt, die Sammlung früher Christenkunst für den Vatikan aufzubereiten.«
Nachdem sie an einem zweiten Wächter der Schweizer Garde vorbeikamen, der momentan etwas verwirrt war, was seine Pflicht betraf, fanden sie Charles Rufus Morey im Meridian-Raum unter einem riesigen Gemälde, auf dem ein Sturm über dem Galiläischen Meer dargestellt war. Mit hochgeschobener Brille versuchte er gerade, einen schweren Lederband vom obersten Regalbrett zu ziehen.
»Lassen Sie mich Ihnen helfen«, schlug Indy vor, nahm ihm das Buch ab und packte es auf den Tisch.
»Danke, Jones. Jones!« rief Morey. Die Brille rutschte auf die Nase zurück, und er warf einen Blick auf seine Armbanduhr. »Was machen Sie denn hier? Sie müssen in einer Stunde zum Unterricht, falls Sie es vergessen haben. Sie werden es niemals schaffen, rechtzeitig zurück zu sein.«
»Machen Sie sich keine Sorgen, Sir«, sagte Indy. »Das ist eine lange Geschichte, aber man kümmert sich um meine Studenten. Das hier ist Alecia Dunstin. Wir sind gerade mit einer ziemlich wichtigen - nun, Recherche - beschäftigt und sind gekommen, um Ihre Hilfe zu erbitten.«
»Hilfe? Was für Hilfe brauchen Sie?«
Indy zog einen Stuhl heran und setzte sich neben Morey.
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