Solange die Wagen auf das Deck eines Transportschiffes verladen wurden, nahmen Caius und Lucius in einer der vielen Tavernen ein üppiges Frühstück mit Fladenbroten, Käse, Eiern, Honig und Milch zu sich. Am nächsten Morgen sollten sie das erste Etappenziel ihrer Reise erreichen: Oppidum Ubiorum, die neue Hauptstadt der Provinz Germanien. Nach dem Essen saßen sie noch eine Weile schweigend an dem schlichten Holztisch der Taverne und beobachteten durch ein Fenster, wie der letzte Wagen über eine breite Rampe auf das Deck des bauchigen Schiffes kroch, während der fette gallische Kapitän vom Achterkastell aus Befehle brüllte, die niemand zu beachten schien. Als die Zugpferde endlich ausgespannt und die Wagen an den Bordwänden festgezurrt waren, trudelten nach und nach die Ruderer ein und verschwanden unter Deck.
»Was ist das eigentlich für ein Verwandter von dir, der uns in Empfang nimmt?«, fragte Lucius beiläufig.
»Publius Cornelius Silanus«, gab Caius nicht weniger teilnahmslos zurück. »Tribun bei der XVIII. Viel mehr weiß ich auch nicht, er ist so eine Art Onkel zweiten Grades von mir. Mein Vater hat ihm geschrieben, dass wir kommen.«
»Und hat er geantwortet?«
»Woher soll ich das wissen? Mein Vater hat den Brief kurz vor unserem Aufbruch abgeschickt. Wahrscheinlich hat Silanus ihn gerade erst erhalten. Quintus hat die Angewohnheit, den Leuten einfach mitzuteilen, was er von ihnen will.«
»Und davon auszugehen, dass sie es tun.«
»Ja«, sagte Caius nicht ohne Stolz.
»Vielleicht kann er uns helfen Rullianus auf die Schliche zu kommen«, erwiderte Lucius und lächelte verschwörerisch.
»Wir sollten ihn auf keinen Fall einweihen, bevor wir wissen, ob man ihm vertrauen kann«, gab Caius abwehrend zurück.
»Na hör mal – immerhin ist er dein Onkel.«
»Zweiten Grades. Angeheiratet. Wie gesagt, ich kenne ihn nicht. Ich kenne nur seine Schwägerin, eine Cousine meines Vaters. Mit diesem Zweig der Familie haben wir nicht viel zu tun. Sie spekulieren mit Grundstücken und werfen mit Geld um sich. Einer ihrer Vorfahren war mal Konsul und darauf bilden sie sich furchtbar viel ein.« Caius musste wieder unwillkürlich an die Worte seines Vaters auf dem Forum denken. Ein Tribun von denen, die vom Zelt aus Kommandos geben und dabei bretonische Austern und griechischen Wein schlürfen, dachte er, sagte aber nichts.
Lucius grinste und zog die Augenbrauen hoch. »Und so einem vertraut dein Vater uns an. Wahrscheinlich hat dieser Silanus wenig Lust, den Aufpasser für zwei Jungs wie uns zu spielen?«
Caius grinste noch breiter zurück. »Das trifft sich ja gut. Wahrscheinlich haben zwei Jungs wie wir ja auch wenig Lust auf einen Aufpasser?«
Lucius lächelte gedankenverloren. »Was macht er eigentlich in Oppidum Ubiorum?«, fragte er schließlich. »Die XVIII. Legion ist doch in Castra Vetera stationiert?«
»Sie sind in diesen Tagen in Oppidum Ubiorum, um den Rheinübergang zu besprechen. In einer Woche geht es los. Sie holen die XVII. in Novaesium ab und marschieren nach Castra Vetera, um sich mit der XVIII. und der XIX. zu treffen, bevor sie alle nach Castra Lupiana ziehen.«
»Und da warten die Damen auf uns.« Lucius grinste wieder.
»Da wartet die Arbeit, Herr Geschäftsführer.«
Das Gespräch plätscherte noch eine Weile vor sich hin, dann kam einer ihrer Leibwächter, der vom Anleger aus das Vertäuen der Wagen beaufsichtigt hatte, und meldete, dass das Schiff zum Ablegen bereit sei. Die beiden nickten, standen auf und verließen die Taverne, um an Bord zu gehen.
Auf dem Schiff war wenig Betrieb. Ein paar Händler hatten sich eingefunden, plauderten, an die Bordwand gelehnt, über Belanglosigkeiten und ließen die Luke des Laderaums nicht aus den Augen, unter der ihre Waren verstaut waren. Ansonsten herrschte die bei Schiffsreisen übliche, unaufgeregte Atmosphäre. Das Wasser gluckerte im einschläfernden Takt der Ruder, während das Schiff mühelos mit der Strömung über den Fluss schwebte und die beiden Ufer zügig vorüberglitten. Ein paarmal trafen sie andere Schiffe, die sich unter Segel und mit angestrengtem Ruderschlag stromaufwärts mühten, ansonsten waren vor allem flache Kähne unterwegs, die von kleinen Kolonnen von Sklaven getreidelt wurden. Die Hügel rückten immer näher an das Stromtal heran, bis sie direkt aus dem Wasser aufzuwachsen schienen. Am rechten Ufer zeigte sich keine Menschenseele. Von Zeit zu Zeit legten sie an kleineren Flusshäfen an, dann brach die Dämmerung herein.
Nachdem Caius sich in seine kleine Kabine zurückgezogen hatte, waren nur noch das Plätschern der Bugwelle an der Bordwand und das Knarren der Planken zu hören. Die monotone Geräuschkulisse schläferte ihn bald ein, doch es war kein erholsamer Schlaf. Unter Deck war es heiß und in seinen Träumen geisterte er in einem Zug von kopflosen Leichen durch einen Wald. Wann immer er versuchte aus der grausigen Kolonne zu fliehen, rückten die Bäume so dicht zusammen, dass kein Durchkommen war. Und wenn er verzweifelt und ratlos wieder in den Zug einscherte, grinsten die Toten ihn an, obwohl sie keine Gesichter mehr hatten. Sie stapften weiter durch schlammige Pfützen.
Irgendwann drang Licht durch die Bäume. Verschlafen öffnete Caius die Augen und wurde gewahr, dass der anbrechende Tag durch die Ritzen in der Deckenluke seiner Kabine blinzelte. Und das Platschen der Füße in den Pfützen war nichts anderes als der Ruderschlag des Schiffes, das die ganze Nacht über unbeirrbar seine Bahn gezogen hatte.
Ganz anders als Caius, der sich nach seinem Albtraum noch lange auf seiner harten Pritsche hin und her gewälzt hatte, ohne wieder richtig einzuschlafen, hatte Lucius eine erholsame Nacht hinter sich. Gut gelaunt stand er an Deck und blinzelte in die schon ziemlich hoch über dem Horizont stehende Sonne, als Caius zerknittert aus seiner Luke kletterte und sich räkelte, um langsam zu sich zu kommen. Die Ruder schlugen jetzt einen schnelleren Takt, um das Schiff in der Mitte des Stroms zu halten, der in behäbigen Schleifen verlief. Planken und Taue ächzten unter der Belastung.
Die letzten Stunden an Bord brachten die beiden die meiste Zeit über schweigend zu. Caius war voll ungeduldiger Erwartung, die er nicht recht in Worte fassen konnte, und er war zu unruhig, um sich auf ein Gespräch oder überhaupt auf irgendeine Beschäftigung länger zu konzentrieren. Er dachte an das Haus in Rom und an seinen Vater. War es am Ende doch falsch gewesen, einfach abzureisen? Obwohl er noch am Vortag voller Abenteuerlust gewesen war, überkam ihn ein unbequemes Gefühl von Heimweh. Lucius schien, wie so oft, seine Gedanken zu erraten und zu spüren, dass dies nicht der richtige Moment für launige Tiraden war. Einmal mehr war Caius überrascht, dass sein Freund, der von allen irgendwie gemocht, von vielen aber wegen seiner lauten Fröhlichkeit für oberflächlich gehalten wurde, ein feines Gespür für die Stimmungen anderer hatte. Lucius legte ihm die Hand auf die Schulter. So standen sie eine Weile an die Bordwand gelehnt.
»Mein Onkel hatte vor ein paar Jahren auch einen Schlaganfall«, sagte Lucius irgendwann wie aus heiterem Himmel. »Er war damals Quaestor. Nach vier Wochen saß er schon wieder in seiner Amtsstube und ließ die Untergebenen strammstehen. Es gibt Leute, die sind nicht kleinzukriegen.«
Caius verstand, was Lucius ihm sagen wollte, und lächelte dankbar. Die Geschichte mit dem Onkel hatte Lucius sich wahrscheinlich mehr oder weniger ausgedacht. Dennoch tat es gut, einen Freund zu haben, vor dem man sich nicht verstellen musste.
Endlich, es ging auf Mittag zu, kam hinter einer besonders engen Flussbiegung am linken Ufer eine Insel in Sicht, die einen großen Hafen mit Lagerbauten und belebten Anlegern beherbergte. Wie in Mogontiacum lagen auch hier dicht an dicht die Kriegsschiffe vertäut, daneben Lastkähne in allen Größen. Eine Brücke verband die Insel mit dem benachbarten Flussufer. Dahinter wurde im Näherkommen eine Stadt sichtbar, die größer war als alles, was sie seit der Überquerung der Alpen gesehen hatten. Mehrstöckige Gebäude aus Ziegeln ragten aus dem Gewürfel von Holzhäusern empor. Ein Palisadenwall begrenzte die Stadt scharf nach außen und reichte bis zum Ufer, wo er durch einen wuchtigen Wehrturm abgeschlossen wurde. Grauer Rauch stieg in kleinen, fast schnurgeraden Säulen überall aus dem Dächermeer zum Himmel. Neben der Brücke erhob sich auf einem gewaltigen Sockel ein Tempel, dessen von schlanken Säulen gebildete Fassade über den Fluss blickte wie ein Sprachrohr, das die Stimme der Götter ans andere Ufer des Flusses tragen sollte. Oppidum Ubiorum.
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