»Und die Gefangenen auch. Die wenigen, die nach all den Jahren noch lebten. Augustus hat sie dazu gezwungen.«
Fastrada drehte die Münze wieder um und blickte versonnen auf das Bild. Imperator Caesar Augustus. »Also haben die Römer am Ende doch gewonnen«, murmelte sie.
Irmin lächelte. »Sie sind hartnäckig«, sagte er. »Das ist neben der Disziplin der wichtigste Grund für ihren Erfolg. Wie gesagt, man kann sie bezwingen. Sie geben sich jedoch nicht ohne Weiteres geschlagen. Sie machen es wie beim Zureiten von Pferden. Wirft der Gaul sie ab, steigen sie sofort wieder auf. Das Pferd mag stärker sein. Aber sie sind schlauer. Disziplinierter. Hartnäckiger.«
»Und wenn sie das Pferd einmal zugeritten haben, tut es für den Rest seines Lebens, was sie wollen.«
Das Lächeln aus Irmins Gesicht verschwand. Sein Mund wurde schmal und er legte den Kopf schief. Er schien nachzudenken. »Meistens«, erwiderte er schließlich. »Aber es gibt auch Pferde, die werfen dich ab, wenn du nicht damit rechnest.« Erneut legte er eine Pause ein und Fastrada hatte den Eindruck, dass das Thema ihn aufwühlte. »Tiberius hatte einen jüngeren Bruder«, sagte Irmin. »Drusus. Drusus war ein glänzender Heerführer. Er hat gegen unsere Väter gekämpft, als wir mit den Römern im Krieg waren. Was heißt wir – du warst damals noch gar nicht geboren, und ich war klein. Achtzehn Jahre ist das her. Auf dem Rückweg von einem Feldzug an die Elbe fing sein Pferd wie aus heiterem Himmel an zu buckeln und warf ihn ab. Er war ein erstklassiger Reiter, und niemand konnte sich erklären, warum der Gaul plötzlich verrücktgespielt hat. Einige sagen, es sei eine Warnung der Götter an die Römer gewesen. Eine riesige Frau wollte man gesehen haben, die Drusus am Ufer der Elbe entgegengetreten sei und ihm seinen bevorstehenden Tod verkündet habe.«
»Aber den Krieg haben sie trotzdem gewonnen«, warf Fastrada ein.
Irmin lachte auf. »Natürlich«, sagte er. »Den Krieg haben sie gewonnen. Und dennoch: Drusus ist an seinen Verletzungen gestorben.«
»Was willst du damit sagen?«
»Nichts. Nur dass man nie glauben sollte, sein Pferd durch und durch zu kennen. Irgendwann kann es einen abwerfen. Und dabei kann man sich das Genick brechen.«
Fastrada nahm den Faden wieder auf. »Und danach hat mein Onkel Segimer dich nach Rom geschickt.«
Irmin grinste seine Cousine an. »Damit sie mich zureiten, meinst du?«
»Das hast du gesagt. Hättest du denn Lust gehabt, sie abzuwerfen?«
»Warum hätte ich das tun sollen? Sie haben mich gefüttert.«
Fastrada kicherte. »Mit Hafer?«
»Nein«, sagte Irmin. »Mit Wissen.«
»Das hat sie nichts gekostet«, entgegnete Fastrada, um ihn zu provozieren. »Wissen kann man abgeben, ohne dass man selbst hinterher weniger davon hat.«
»Ich habe noch mehr bekommen«, sagte Irmin. »Einen neuen Namen zum Beispiel.«
»Hast du schon erzählt. Wie lautet der noch mal?«
»Caius Julius Arminius.«
»Klingt edel.«
»Ist er auch. Sie haben mich in den Ritterstand erhoben. Den Siegelring hat mir Tiberius persönlich übergeben.« Irmin streckte ihr seine rechte Hand hin. Am kleinen Finger glänzte ein massiver goldener Ring, in den ein blassblauer Stein eingefasst war.
Fastrada beugte sich vor und ergriff Irmins Hand, um den Ring zu betrachten. Im gleichen Augenblick kam ihr diese Berührung merkwürdig vor. Vielleicht etwas zu brüsk ließ sie die Hand wieder los. »Sie scheinen viel von dir zu halten, wenn sie dir so ein Geschenk machen«, sagte sie schnell.
»Tiberius verschenkt nichts. Bei ihm muss man sich alles verdienen.« Es klang stolz. Irmin schien sich klar darüber zu sein, was er geleistet hatte, und Fastrada bewunderte ihn für sein Selbstbewusstsein. »Er ist keiner von diesen verweichlichten Legaten, die vom Stabsgebäude aus Befehle geben, die niemand nachvollziehen kann. Er lässt seine Soldaten exerzieren, bis sie das Schwert nicht mehr halten können. Aber er verheizt sie nicht. Und nachdem er sie geschunden hat, hockt er sich zu ihnen ans Feuer und trinkt mit ihnen Glühwein, während die Herren vom Stab im warmen Zelt sitzen und jammern, dass der Falerner nicht gut genug gekühlt ist. Er trinkt jeden unter den Tisch – die Soldaten mit Glühwein und die Offiziere mit Falerner. Und wer am nächsten Morgen nicht aus dem Zelt kommt, den tritt er persönlich in den Hintern.«
»Du scheinst ihn zu mögen.«
»Ich mag ihn, weil er die Leute nach ihrer Leistung beurteilt und den gleichen Maßstab an sich selbst anlegt. Aber viele Römer sehen das ganz anders.« Irmins Stimme war hart geworden und sein Gesicht verfinsterte sich. Fastrada bemerkte eine Regung, die sie von ihrem Cousin gar nicht kannte: Er schien gekränkt. »Vor allem in der Umgebung unseres Herrn Statthalters und bei den Stäben der Rheinarmee. So viele Schnösel und Großmäuler auf einem Haufen habe ich in Pannonien in meiner ganzen Zeit nicht gesehen. Sie glauben, Römer zu sein sei ein Rang.« Irmin schwieg wieder, als hätte er schon zu viel gesagt.
So saßen sie eine Weile auf ihren Baumstümpfen. Um sie herum spielte die Sonne in den Zweigen der Bäume, die die Lichtung umstanden. Vögel zwitscherten in den Zweigen, und ein paar Schritte vor ihnen eilte ein schwarzes Eichhörnchen in eleganten, bogenförmigen Sprüngen auf eine Buche zu und schoss scheinbar schwerelos daran empor. Hinter den Stämmen zeichnete sich dunkel die Palisade einer Siedlung ab. Sie war von einem Graben umgeben und rechts und links des geöffneten Tores ragten zwei hölzerne Wachtürme auf. Wie eine römische Befestigung, dachte Fastrada, die einmal das Lager einer durchziehenden Legion aus der Ferne gesehen hatte.
Irmin richtete sich mit einem Mal auf. »Fastrada«, sagte er so ernst, dass sie zusammenzuckte. Sie blickte ihn fragend an. Was kommt denn jetzt, dachte sie. »Du kennst doch das römische Lager eine Tagesreise von hier an der Lippe?«
»Ja«, antwortete sie und wunderte sich über den kalten Unterton in Irmins Stimme. »Castra Lupiana.«
»Ich möchte, dass du dort etwas für mich erledigst«, sagte er.
Caius und Lucius stürzten zurück in die Herberge. Sobald sie die Gaststube betreten hatten, zwangen sie sich langsam zu gehen, um nicht die Aufmerksamkeit der anderen Gäste auf sich zu lenken.
Caius pochte das Herz bis zum Hals, und er versuchte sein Keuchen zu unterdrücken. Seine Gedanken rasten. War der Mörder noch in der Nähe? Saß er womöglich ein paar Tische weiter und hatte sie längst im Visier? So sehr der Gedanke ihn auch beunruhigte, so erleichtert war er gleichzeitig, nicht mehr im Halbdunkel zwischen den Tannen bei dieser schrecklich zugerichteten Leiche hocken zu müssen. Sie waren wieder unter Menschen. Ihre Leibwächter hielten sich immer noch an dem Tisch in der Ecke auf. Ab und zu warf einer von ihnen einen Blick in die Runde.
Uns kann nichts passieren, dachte Caius. Die Schatulle hatte er unter seiner Kleidung versteckt.
Die beiden Freunde nahmen wieder Platz und atmeten tief durch.
Lucius blickte seinen Freund über den Tisch hinweg an. »Worauf wartest du?«, drängte er. »Hol den Brief raus, oder was auch immer da drin ist!«
»Ist ja gut.« Caius ließ die Schatulle unter seiner Tunika hervorgleiten und entnahm dem Geheimfach die Papyrusrolle. Die Schatulle stellte er auf den Boden. Er blickte sich um, aber niemand schenkte ihnen Beachtung. Vier oder fünf weitere Gäste waren dazugekommen, doch alle plauderten vor sich hin, aßen und tranken.
Lucius trommelte ungeduldig mit den Fingern auf die Tischplatte, während Caius den Papyrus vor sich ausbreitete und ihn mit dem Arm glatt strich.
Die Schrift war unsauber und in dem schummerigen Licht zweier kleiner Öllampen nur schwer zu entziffern. Wieder blickte Caius sich im Raum um. Noch immer nahm niemand Notiz von ihnen. Lucius rutschte unruhig auf der Bank hin und her und schien darauf zu warten, dass Caius zu lesen begann. Plötzlich zeigte er mit zitterndem Finger auf eine kurze Zeile, die einsam am oberen Rand des Blattes stand: der Name des Absenders. Caius erstarrte. Publius Quinctilius Varus . Sie blickten sich mit offenem Mund an. Es war ein Brief des Statthalters von Germanien!
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