Damit war alles entschieden. Caius kannte seinen Vater gut genug, um zu wissen, dass er es ernst meinte. Wer schwimmen lernen soll, den muss man ins Wasser werfen, pflegte er zu sagen. Das traf es: Seine bevorstehende Reise war wie ein Sprung ins Wasser. Ein bisschen unbehaglich war Caius bei der Vorstellung. Würde das Unternehmen unter einem guten Stern stehen? War das Unglück seines Vaters am Ende vielleicht ein böses Omen? Noch ehe er diesen Gedanken zu Ende gebracht hatte, fand er ihn schon wieder albern.
»Fahr«, sagte Quintus noch einmal dicht an seinem Ohr. Dann ließ er seinen Arm sinken und lächelte.
Während sein Vater die Augen schloss, erhob sich Caius von der Kline und stand unschlüssig im Raum. Er schaute sich um. Sein Blick blieb an dem umgestürzten Sessel und den auf dem Boden liegenden Tafeln und der Schriftrolle hängen. Er ging zum Tisch, stellte den Sessel wieder hin, ergriff die Tafeln und legte sie auf einen Stapel. Dann bückte er sich nach der heruntergefallenen Papyrusrolle. Es war die Aeneis von Maro, aus der sein Vater, der den Dichter kurz vor dessen Tod persönlich kennengelernt hatte, ihm schon als Kind oft vorgelesen hatte. Eine fantastische Erzählung über die Reise in ein unbekanntes Land, dachte Caius. Ausgerechnet. Konnte das Zufall sein? Oder war es ein Wink? Eine Warnung? Caius schaute auf den Papyrus in seiner Hand. Der Text zwischen den beiden Rollen war irgendwo in der Mitte des dritten Buches der Aeneis geöffnet. Sein Blick fiel auf einen der Verse, in denen von der Höhle des menschenfressenden Kyklopen die Rede war. Unwillkürlich folgten seine Augen den Zeilen, und als die Worte sich in seinem Kopf formten und zu dem oft gehörten monotonen Rhythmus aneinanderreihten, war ihm, als griff eine eiskalte Hand nach seinem Herzen. Sah ich’s doch selbst: Er packt zwei Mann aus unserer Schar mit mächtiger Faust und lehnt sich zurück inmitten der Höhle, schmettert sie gegen den Fels; da schwamm, vom Blute bespritzt, der Boden; ich sah, wie er dann die blutbesudelten Glieder kaute, wie zitternd die Stücke noch zuckten unter den Zähnen .
Caius hatte vor lauter Aufregung nicht geschlafen und fühlte sich wie gerädert, als seine Mutter ihn am frühen Morgen weckte. Der Tag der Abreise war gekommen.
Draußen war es noch dunkel. Gedämpft drang das Klappern von Hufen und das Rattern von Wagenrädern herein. Rom schlief nicht: Die ganze Nacht über brachten Lieferanten ihre Waren und luden sie vor Geschäften und Lagerhäusern ab. Die nächtliche Geräuschkulisse gehörte zu dieser Stadt wie das Meeresrauschen zu einem Fischerdorf an der Küste. Caius wusste, dass er diese Geräusche vermissen würde. Sie fehlten ihm schon, wenn er ein paar Tage im Landhaus seines Vaters verbrachte.
Schließlich stand er auf und wusch sich das Gesicht in einem Bronzebecken. Im Haus waren ein paarmal leise Schritte zu hören. Caius zog sich an und trat ins Atrium. Der Brunnen plätscherte nicht, und auch sonst war es still. Der Himmel über ihm hatte einen ersten Stich von Dunkelblau bekommen. Ein paar Sterne glitzerten und kündigten einen wolkenlosen Tag an.
Im Triclinium brannte Licht. Caius trat ein und sah seine Mutter, die gerade dabei war, ein paar frische Fladenbrote einzupacken, die einer ihrer Sklaven zu dieser frühen Stunde irgendwo besorgt hatte. Sie blickte auf und rang sich ein Lächeln ab.
Caius war zu unruhig, um sich zu setzen. Während seine Mutter Honig und Kräuterquark in kleine Schalen füllte, ging er rastlos im Raum auf und ab. Plötzlich hörte er, wie ein Wagen in ihre Straße einbog. Das muss Lucius sein, dachte er. In diesem Viertel auf dem Aventin gab es keine Läden, die beliefert werden mussten; die Leute, die hier wohnten, kauften ohnehin nicht selbst ein, sondern ließen sich die Ware bringen.
Das Klappern der Hufe und das Rasseln der Wagenräder wurde lauter und verstummte unmittelbar vor dem Haus. Caius ging durch das Atrium zur Tür. Der vorhin kaum wahrnehmbare Blaustich im Himmel war in der kurzen Zeit kräftiger geworden.
Er öffnete die Tür, noch bevor Lucius klopfen konnte. Sein Freund hatte blendende Laune. Weder die kurze Nacht noch der Abschied von Familie und Freunden schien ihm zuzusetzen. Caius’ Niedergeschlagenheit sah er mit einem Blick, er hatte aber offenbar nicht die Absicht, mit Einfühlsamkeit darauf zu antworten. »Du sauertöpfischer Krauterer!«, rief er, packte Caius bei den Schultern und schüttelte ihn. »Wir fahren nach Germanien und bringen den griesgrämigen Cherumplern und den bärbeißigen Brutzelern die Heiterkeit des Südens! Also zieh nicht so ein Gesicht!« Mit diesen Worten verschwand er im Atrium.
Caius stand eine Weile unschlüssig in der großräumigen Eingangshalle. Eigentlich war ihm in seiner augenblicklichen Stimmung nicht nach der Gesellschaft dieses aufdringlichen Flegels, der sein Freund nun einmal war. Doch so anstrengend Lucius manchmal sein konnte, so gnadenlos er andere mit seiner unsanften Fröhlichkeit heimsuchte – seine Heiterkeit war ansteckend. Schon spürte Caius, wie seine Laune sich hob. Was für einen Grund gab es überhaupt, sich Sorgen zu machen? Seinem Vater ging es viel besser, und er selbst brach zu einer Reise auf, um die ihn alle anderen Jungen beneideten, und das in Gesellschaft eines Freundes, der mit seinem Tatendrang und Einfallsreichtum der beste Garant dafür war, dass es nicht einen einzigen Moment langweilig werden würde. Caius holte tief Luft und lächelte, dann ging auch er ins Haus zurück.
Die Anwesenheit von Lucius machte selbst den Abschied von seiner Familie leichter. Tullia und Cornelia konnten ihre Tränen nicht mehr zurückhalten, als Caius sie umarmte. Sein Vater, der sich auf einen Stock stützte, bewahrte die Fassung. Bevor er seinen Sohn in den Arm nahm, überreichte er ihm eine kostbar eingefasste Schriftrolle. »Als Reiselektüre«, sagte er mit einem hintergründigen Lächeln. »Statt vieler guter Ratschläge, die du ja ohnehin in den Wind schlagen würdest.« Es waren die Satiren von Flaccus. Caius war gerührt. Seine Augen wurden feucht, und er blinzelte ein paarmal, damit Lucius es nicht sah. Draußen fuhren weitere Wagen vor. Es war Zeit für den Aufbruch.
Eine Viertelstunde später saßen Caius und Lucius in einem bequem gefederten und gepolsterten Reisewagen und ratterten den Hang des Aventin hinab. Drei weitere Wagen mit Gepäck und Bediensteten folgten ihnen. Der Himmel glomm inzwischen in kräftigem Blau, und nur noch die hellsten Sterne waren zu sehen. Sie bogen in eine größere Straße ein und fuhren in Richtung Norden. Links von ihnen schimmerte der Tiber. Sie passierten den Stadthafen mit seinen Lagerhallen, wo bereits ganze Scharen von Arbeitern mit dem Beladen von Wagen aller Größen beschäftigt waren. Es folgten einige Tempel, dann die Insel, die in der Morgendämmerung tatsächlich wie ein Schiff durch den Strom zu gleiten schien. Bald darauf überquerten sie das Marsfeld, wo noch kaum ein Mensch unterwegs war. Weitere Tempel glitten vorbei, dann die Thermen des Agrippa, und kurz darauf bogen sie links in die auf beiden Seiten von Grabmonumenten aller Größen gesäumte Via Flaminia ein, wo wiederum reger Verkehr herrschte. Vor ihnen tauchte das mit Travertin verkleidete Mausoleum des Augustus auf, ein gewaltiger Zylinder, dessen oberer Rand von Marmorstatuen gesäumt wurde. Darüber türmte sich ein mit Zypressen bestandener Kegel, auf dessen Spitze eine vergoldete Statue des Princeps im Prachtharnisch stand, die rechte Hand mit ausgestrecktem Zeigefinger in einer lässigen und dennoch vornehmen Geste zur Ansprache an nicht vorhandene Soldaten erhoben. Die Sonne, die gerade im Nordosten hinter den Grabmälern aufgegangen war, bestrahlte die Statue frontal und verlieh ihr einen atemberaubenden Glanz. Es war, als wäre Augustus, der über dem dunklen Kegel des Mausoleums zu schweben schien, mit flüssigem Gold übergossen. Caius dachte an die Worte des Princeps: Ich habe meine eigenen Erben überlebt . Dort unten im Bauch des Grabmals ruhte die Asche der Verwandten und Wegbegleiter des seit vier Jahrzehnten mächtigsten Mannes der Welt, die ihm beim Aufbau des Imperiums geholfen hatten und die er hinter sich hatte lassen müssen: seine Freunde Marcellus und Agrippa, seine Schwester Octavia und seine beiden Enkel Lucius und Caius. Lucius und Caius.
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