»Könnte er damit auf irgendeine gemeinsame Erinnerung anspielen? Mit dem Geheimnis hat es jedenfalls nichts zu tun. Und andere versteckte Hinweise kann ich hier beim besten Willen nicht entdecken. Warum sollte Varus auch welche einbauen? Sie wissen ja offenbar beide, wovon die Rede ist.«
Eine junge Bedienung trat an den Tisch, um die Weinkaraffe abzuräumen. Sie hatte ein hübsches Gesicht und schwarzes Haar, das ihr in einem dicken Zopf über die Schulter fiel, doch Lucius beachtete sie gar nicht.
Caius blickte wieder auf den Brief. »So kommen wir nicht weiter.« Er grinste breit. »Da müssen wir uns wohl selbst auf die Suche machen. Der Herr Statthalter scheint sein Geheimnis ja wie seinen Augapfel zu hüten. Und wenn er demnächst über den Rhein geht, wer ist dann mit von der Partie?«
»Wir!« Lucius lachte und schlug mit der flachen Hand auf den Tisch.
Einen Moment vergaßen sie, was für ein schauriger Fund den Anfang dieses Abenteuers markierte. Dann fiel es beiden gleichzeitig wieder ein und ihr Lachen erstarb. Jeder wusste, was in diesem Moment in dem anderen vorging.
»Was ist, wenn wir doch nicht die Einzigen sind, die von der Sache wissen?«, gab Lucius zu bedenken. »Immerhin hat jemand den Boten ermordet.«
»Aber er hat die eigentliche Nachricht nicht gefunden«, entgegnete Caius. »Er hat einen Brief mit völlig uninteressantem Inhalt aus der Schatulle gezogen. Darin besteht ja der Trick.«
»Er muss jedoch vermutet haben, dass der Bote eine wichtige Mitteilung bei sich hat. Das würde erklären, warum er der Leiche den Kopf abgeschnitten hat. Damit Rom nicht davon erfährt, dass dieser Philippos ermordet an einer Raststation an der Grenze zu Raetien aufgefunden wurde. Damit es keine Nachforschungen gibt. So ist es nur eine beliebige Leiche ohne Kopf. Erschlagen von einem Raubmörder. Oder von einem Wahnsinnigen. Kommt ja vor. Die Leute in der Gegend schließen ein paar Monate lang ihre Türen etwas sorgfältiger ab und im nächsten Frühjahr ist alles vergessen.«
»Du meinst also, jemand hat den Boten erkannt und ermordet?«, hakte Caius nach.
»Könnte doch sein? Haben die Boten des Princeps immer die gleichen Schatullen?«
»Keine Ahnung. Bei den beiden, die ich gesehen habe, war es jedenfalls so.«
»Und haben die alle ein Geheimfach?«
Caius überlegte angestrengt und nach und nach fielen ihm die Einzelheiten des Nachmittags bei Augustus wieder ein. »Also, zuerst kam dieser Patroklos, der hat einen Brief mitgenommen, und bei der Gelegenheit hat der Princeps uns erklärt, wie das mit dem Geheimfach funktioniert, aber nur so nebenbei. Das Gespräch ging weiter, dann kam Rullianus und schließlich irgendwann dieser Philippos mit seiner Schatulle.« Caius legte die Stirn in Falten und rief sich die Situation in Erinnerung. »Ja«, fuhr er schließlich fort, »er steckte den Brief in seine Schatulle und zog an diesem Band. Damit verschließt man das Geheimfach.« Caius nahm die Schatulle, die immer noch unter dem Tisch auf dem Boden stand. Er betastete mit den Fingern den Rand und die kleine Öffnung, aus der das Ende des Lederbandes schaute.
Lucius war blass geworden und starrte seinen Freund mit offenem Mund an. »Das kann nicht wahr sein«, sagte er schließlich tonlos.
»Was?«, fragte Caius.
Lucius packte ihn bei den Schultern und schüttelte ihn. »Bist du so schwer von Begriff? Der Mörder wusste, dass er einen Boten des Princeps vor sich hatte, weil er ihn beim Princeps gesehen hatte. Er konnte aber nichts von dem Geheimfach wissen, weil er noch nicht anwesend war, als der Princeps davon sprach.«
»Rullianus«, stieß Caius hervor. Er dachte an die Begegnung mit dem Legaten vor wenigen Stunden und spürte, wie eine Gänsehaut über seinen ganzen Körper kroch.
Die Reise zog sich hin. Sie fuhren die meiste Zeit über auf den neuen und gut ausgebauten Straßen entlang des Rheins. Der Strom glitzerte zu ihrer Rechten in der Sonne. Er durchschnitt ein Flusstal, das am Horizont von Höhenzügen begrenzt wurde, die abrupt aus der Tiefebene aufragten. Caius war überrascht von der Breite des Flusses, der schon nach wenigen Tagen deutlich mächtiger war als der Tiber in Rom. Wie groß mag erst das dahinterliegende Land sein, dachte er. Lucius, der durch das monotone Rasseln der Räder schnell müde wurde, verschlief die halbe Fahrt, sodass Caius viel Zeit hatte, aus dem Fenster zu blicken. Seine Gedanken kreisten um Rullianus. Hatte er wirklich den Boten ermordet? Hatte er jemanden beauftragt? Je weiter sie sich vom Ort des Leichenfundes entfernten, desto absurder kam ihm der Verdacht vor. Ging ihre Vermutung nicht doch in eine völlig falsche Richtung? War es am Ende ein ganz gewöhnlicher Raubmörder gewesen, der in der Schatulle nach Geld gesucht hatte? Aber warum hätte er seinem Opfer den Kopf abschneiden sollen? Während der Wagen dahinfuhr, schweiften seine Gedanken immer wieder ab.
Das gegenüberliegende östliche Ufer des Stroms war fast vollständig von Wäldern bedeckt, die sich dunkelgrün und schweigend bis zum Horizont erhoben. Hier und da entdeckte Caius kleine Kähne, die zwischen Bäumen und Buschwerk auf die Böschung gezogen worden waren. Vereinzelte Fischer glitten mit Einbäumen in Ufernähe über das Wasser und legten Netze aus oder holten sie ein. Einmal erschien ein schwer bewaffneter Reiter auf dem schmalen Strand, tränkte sein Pferd im seichten Wasser, dann hieb er dem Tier die Fersen in die Flanken und verschwand wieder in der geheimnisvollen Kulisse aus Baumstämmen, die so dicht standen, dass sie den Reiter nach wenigen Augenblicken verschluckten. Ansonsten waren kaum Menschen unterwegs. Man möchte diesen ganzen Wald auf den Kopf stellen und schütteln, dachte Caius. Wäre doch interessant zu sehen, was da alles rausfällt.
Der Strom trennte in der Tat zwei Welten voneinander. Während das Ostufer die ganze Dauer der Reise über von dem undurchdringlichen Teppich aus Bäumen bedeckt blieb, konnte man am Westufer fast glauben in Italien zu sein. An den Hängen der Hügel in der Ferne sah man sanft geschwungene Ketten von Weinstöcken talwärts laufen. In der Landschaft, die sie passierten, herrschte reger Betrieb. Überall wurde gebaut und in der Umgebung der Ortschaften waren die Straßen fast genauso verstopft wie zu Hause. Transportkarren beförderten Ziegel und Bauholz, Bleirohre für Wasserleitungen, Dachpfannen aus Ton, zerlegte Baukräne oder aufgerollte Hanfseile. Die Reisegruppe nächtigte in den Herbergen in der Nachbarschaft der Flusshäfen, wo Tag und Nacht Fässer, Säcke, Kisten, Amphoren, Stoffballen und Baumstämme entladen wurden. Transportarbeiter fluchten in ihrer fremden Sprache, doch mit dem gleichen derben und flegelhaften Tonfall wie in Rom und anderswo. An den Anlegern drängten sich die Lastkähne und auch auf dem Rhein selbst herrschte Hochbetrieb.
Eines Morgens, kurz bevor das Stromtal zwischen den Bergen verschwand, erreichten sie die Vorstadt des Legionslagers von Mogontiacum, das oberhalb des Flusses etwa eine Meile vom Ufer entfernt auf einer Anhöhe thronte. Der Palisadenwall mit den Wachtürmen folgte den Unebenheiten des Geländes in sanftem Schwung, und aus dem Haupttor des Lagers schlängelte sich eine Straße die Anhöhe hinunter in die Vorstadt und verschwand zwischen den Gebäuden, die in lockerer Streuung in einen Flusshafen übergingen. Die Wagenkolonne passierte Lagerhallen und Tavernen, arbeitete sich durch kreuz und quer rangierende Transportkarren und eine Abteilung Legionäre, die im Gleichschritt auf einen der Anleger zuhielt, an dem mehrere Liburnen mit eingezogenen Rudern und gerefften Segeln lagen. Im Hafen war das Gedränge noch größer als in den Straßen der Vorstadt. Ein kleines Heer von Seeleuten war damit beschäftigt, die Schiffe auf Vordermann zu bringen. Transportarbeiter holten unablässig Waren von Bord und türmten sie auf ihre Karren oder umgekehrt. Von überall ertönten Zurufe, während das Schrammen der Schiffskörper an den Stegen, das Knarren der Planken und das Ächzen des Tauwerks, das sich im Takt der Wellenbewegungen spannte und lockerte, die Geräuschkulisse bildeten.
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