Außergewöhnlich intelligent schien er nicht zu sein, und viele seiner Kollegen hielten ihn eigentlich nur für »einen Spinner und Prahlhans«. 4Er war eine Sportskanone und ließ sich manchmal im Speisesaal oder anderen Räumlichkeiten des Caltech auf den Boden fallen, um mit einarmigen Liegestützen allen, die zu Zweifeln neigten, seine Vitalität zu beweisen. Er war von berüchtigter Aggressivität, und sein Verhalten wurde irgendwann so beängstigend, dass sein engster Mitarbeiter, ein sanfter Mann namens Walter Baade, nicht mehr mit ihm allein gelassen werden wollte. 5Baade war Deutscher, und Zwicky warf ihm unter anderem vor, er sei Nazi - was nicht stimmte. Bei mindestens einer Gelegenheit drohte Zwicky, er werde Baade umbringen, wenn dieser - er arbeitete oben auf dem Berg im Mount-WilsonObservatorium - sich auf dem Gelände des Caltech blicken ließe. 6
Aber Zwicky war auch zu verblüffend scharfsinnigen Erkenntnissen in der Lage. Anfang der dreißiger Jahre wandte er sich einer Frage zu, die den Astronomen schon lange Probleme bereitete: Am Himmel tauchten gelegentlich unerklärliche Lichtpunkte auf, neue Sterne. Er kam auf den ungewöhnlichen Gedanken, dahinter könnten Neutronen stecken, subatomare Teilchen, die James Chadwick in England kurz zuvor entdeckt hatte und die gerade völlig neu und in Mode waren. Seine Idee: Wenn ein Stern zusammenbricht und eine Dichte erreicht, wie sie im Atomkern herrscht, würde ein unvorstellbar kompaktes Gebilde entstehen. Die Atome würden buchstäblich zerquetscht, und ihre Elektronen würden in den Atomkern gedrückt, sodass Neutronen entstehen. Das Ergebnis ist ein Neutronenstern. Man stelle sich eine Million wirklich schwergewichtiger Kanonenkugeln vor, die auf die Größe einer Murmel zusammengepresst werden - und selbst das reicht noch nicht annähernd aus. Der Kern eines Neutronensterns ist so dicht, dass ein einziger Löffel von seinem Material 100 Milliarden Kilo wiegt. Wie Zwicky erkannte, würde bei einem solchen Sternenkollaps eine Riesenmenge Energie übrig bleiben, genug, um den größten Knall im Universum zu erzeugen. Solche Explosionen bezeichnete er als Supernovae. In der Tat sind sie die größten Ereignisse im Kosmos.
Am 15. Januar 1934 erschien in der Fachzeitschrift Physical Review eine sehr knappe Zusammenfassung eines Vortrages, den Zwicky und Baade einen Monat zuvor an der Stanford University gehalten hatten. Obwohl er sehr kurz war - er bestand nur aus einem Absatz von 24 Zeilen -, enthielt dieser Artikel eine ungeheure Menge neuer wissenschaftlicher Erkenntnisse: Er sprach zum ersten Mal von Supernovae und Neutronensternen, lieferte eine überzeugende Erklärung für ihre Entstehung sowie eine korrekte Berechnung ihrer Explosionskraft und stellte in einer Art Schlusseffekt eine Verbindung zwischen Supernova-Explosionen und dem neu entdeckten, rätselhaften Phänomen der kosmischen Strahlung her, die, wie man seit kurzem wusste, das ganze Universum durchzog. Es waren, gelinde gesagt, revolutionäre Gedanken. Dass es Neutronensterne tatsächlich gibt, wurde erst 34 Jahre später bestätigt. Und die Gedanken über die kosmische Strahlung gelten zwar als plausibel, ihr Wahrheitsgehalt konnte aber bis heute nicht nachgewiesen werden. 9Insgesamt war der Artikel nach den Worten des Caltech-Astrophysikers Kip S. Thorne »eines der vorausschauendsten Dokumente in der Geschichte der Physik und Astronomie«. 10
Interessanterweise begriff Zwicky so gut wie überhaupt nicht, warum das alles geschah. Thorne schreibt: »Nach eingehender Beschäftigung mit seinen Veröffentlichungen jener Zeit bin ich vielmehr zu der Überzeugung gelangt, dass er die physikalischen Gesetze nicht gut genug verstand, um seine Vermutung erhärten zu können.« 11Zwicky hatte eine Begabung für große Ideen. Die mathematische Kleinarbeit überließ er anderen, insbesondere Baade.
Zwicky erkannte auch als Erster, dass die sichtbare Materie im Universum bei weitem nicht ausreicht, um die Galaxien zusammenzuhalten, und dass die Gravitation demnach noch eine andere Ursache haben muss - heute sprechen wir von dunkler Materie. Etwas anderes aber übersah er: Schrumpft ein Neutronenstern stark genug zusammen, wird er so dicht, dass selbst das Licht seiner ungeheuren Anziehungskraft nicht mehr entkommen kann: Ein schwarzes Loch entsteht. Leider war Zwicky bei den meisten seiner Kollegen so unbeliebt, dass seine Ideen fast nicht zur Kenntnis genommen wurden. Als der berühmte Robert Oppenheimer sich fünf Jahre später in einem bahnbrechenden Aufsatz mit Neutronensternen beschäftigte, erwähnte er Zwickys Erkenntnisse an keiner einzigen Stelle, obwohl dieser jahrelang in einem Büro auf demselben Flur an dem Problem gearbeitet hatte. Zwickys mathematische Ableitungen zur dunklen Materie rückten erst nahezu 40 Jahre später in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit. Wir können nur annehmen, dass er während dieser Zeit eine Menge Liegestütze machte.
Wenn wir den Blick zum Himmel heben, sehen wir vom Universum erstaunlich wenig. Mit bloßem Auge sind von der Erde nicht mehr als 6000 Sterne zu erkennen, davon rund 2000 von einer einzelnen Stelle aus. Mit einem Fernglas steigt die Zahl der von einem Punkt sichtbaren Sterne auf etwa 50000, und mit einem kleinen Zwei-ZollTeleskop liegt sie schon bei 300000. Mit einem 16-Zoll-Teleskop, wie Evans es benutzt, zählt man schon nicht mehr die Sterne, sondern die Galaxien. Von seiner Terrasse aus kann der Geistliche nach eigenen Schätzungen 50000 bis 100000 solcher Milchstraßensysteme erkennen, und jedes davon enthält Zigmilliarden Sterne. Das sind natürlich ansehnliche Zahlen, aber selbst bei einem so umfangreichen Ausgangsmaterial sind Supernovae äußerst selten. Ein Stern leuchtet meist viele Milliarden Jahre lang, aber er stirbt nur einmal, und das schnell; außerdem explodieren nur die wenigsten Sterne bei ihrem Tod. Die meisten hauchen in aller Stille ihr Leben aus wie ein Lagerfeuer in der Morgendämmerung. In einer typischen Galaxie mit ihren rund 100 Milliarden Sternen tritt nur durchschnittlich alle zwei- bis dreihundert Jahre eine Supernova auf. Ein solches Ereignis zu finden gleicht ein wenig dem Versuch, mit einem Teleskop von der Aussichtsplattform des Empire State Building aus die Fenster von Manhattan zu mustern und dabei jemanden zu entdecken, der gerade 21 wird und die Kerzen seines Geburtstagskuchens anzündet.
Als nun ein hoffnungsfroher, sanftmütiger Geistlicher sich an die Astronomengemeinde wandte und anfragte, ob es nützliche Himmelskarten für die Suche nach Supernovae gebe, glaubte man dort, er sei nicht ganz bei Trost. Evans besaß damals ein 10-Zoll-Teleskop - eine ansehnliche Größe für einen Amateur-Sterngucker, aber kaum das richtige Instrument für ernsthafte Kosmologie -und hatte vor, damit ein ungeheuer seltenes Phänomen im Universum aufzuspüren. Bevor Evans 1980 seine Beobachtungen aufnahm, hatte man in der gesamten Geschichte der Astronomie noch nicht einmal 60 Supernovae entdeckt. (Als ich ihn im August 2001 aufsuchte, hatte er gerade über seine vierunddreißigste visuelle Entdeckung berichtet; die fünfunddreißigste folgte wenige Monate später, die sechsunddreißigste Anfang 2003.)
Allerdings hatte Evans einige Vorteile auf seiner Seite. Die meisten Beobachter befinden sich - wie überhaupt der größere Teil der Menschheit - auf der nördlichen Erdhalbkugel, und deshalb hatte er vor allem am Anfang einen großen Abschnitt des Himmels fast für sich allein. Außerdem war er schnell, und er hatte ein ungeheuer gutes Gedächtnis. Große Teleskope sind schwerfällige Instrumente - ein beträchtlicher Teil ihrer Betriebszeit dient nur dazu, sie in die richtige Position zu bringen. Evans konnte sein kleines 16-Zoll-Teleskop hin- und herdrehen wie der Heckschütze im Luftkampf, und er brauchte sich an jedem Punkt des Himmels nicht länger als ein paar Sekunden aufzuhalten. Deshalb konnte er an einem Abend etwa 400 Galaxien durchmustern, während professionelle Astronomen mit ihren großen Instrumenten froh waren, wenn sie es auf 50 oder 60 brachten.
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