Das bekamen vor allem die Sachsen zu spüren, deren Gebiet Karl christianisieren und seinem Reich einverleiben wollte. Seine Krieger brachten in dem viele Jahre andauernden Unterwerfungskrieg Zerstörung, Tod und Elend in die Dörfer und erzwangen die Umsiedlung Zehntausender Menschen, die für immer ihrer Heimat beraubt wurden. Auch die Vernichtung der Irminsul, des zentralen Heiligtums der germanischen Stämme, konnten die sächsischen Götter nicht verhindern.
Besonders ein Ereignis warf Schatten auf das Bild des großen Herrschers Karl: die brutale Massenhinrichtung von über tausend gefangenen Sachsen (sächsische Chronisten sprechen von 4500 Opfern) bei Verden an der Aller (782), deren Wasser sich vom Blut der Getöteten rot gefärbt haben soll. Schon zu seinen Lebzeiten regte sich Kritik an Karls Racheakt, heute erinnern in Verden 4500 im Jahr 1935 - ganz im Geiste der damaligen Zeit - gesetzte Steine an das blutige Geschehen.
Dreizehn Jahre dauerte der Krieg gegen Widukind, den Anführer der Sachsen, und seine Aufständischen, die sich weder dem christlichen Glauben noch der politischen Herrschaft der Franken unterwerfen wollten. Schließlich überzeugten die kirchlichen Berater Karl davon, einen friedlichen Weg einzuschlagen und mit den Sachsen zu verhandeln. Karl stimmte zu, verlangte aber im Gegenzug die Taufe Widukinds. 785 war es so weit. Der kriegsmüde Widukind kam mit einer Gefolgschaft nach Attigny in die Residenz des Königs der Franken und sprach das christliche Glaubensbekenntnis.
Die Taufe Widukinds war ein großer Erfolg Karls. Obwohl es noch fast zwanzig Jahre bis zur vollständigen Unterwerfung Sachsens dauern sollte, war er sich recht schnell sicher, dass er nun endlich sein Ziel erreicht hatte: ein christliches Reich mit lauter Christen unter einem christlichen Herrscher.
Sie werden sich vielleicht fragen, ob der kriegerische Karl nicht auch andere Seiten hatte. Er hatte. Mit der Eroberung der Lombardei - seit 774 trug er den Titel Rex Francorum et Langobardor-um (König der Franken und Langobarden) - war sein Interesse an antiker Kultur und Wissenschaft geweckt worden, und er brachte eine Art Bildungsreform auf den Weg. Zahlreiche Gelehrte, vor allem Mönche und Kleriker, wurden an seinen Hof gerufen, sie kamen aus allen Teilen Europas. Mit der Bibel und Gottes Wort als Basis gelang ihnen gleichsam eine Wiedergeburt der lateinischen Welt (eine Karolingische Renaissance), die in den Jahrhunderten zuvor in den Wirren von Kämpfen und Völkerwanderungen ihre Konturen fast ganz verloren hatte.
Aber Karl förderte mit viel Energie auch die Entwicklung einer altfränkischen Volkssprache, der lingua theodisca (zum Volk gehörig), aus der die althochdeutsche Form diutisc hervorging, die sich allmählich zu dem späteren Wort »deutsch« wandelte. Einer sollte schreiben wie der andere, alles sollte von allen gelesen werden können. Karl hatte einen politischen Raum geschaffen, der nun auch zu einem gemeinsamen Sprachraum wurde und das Bewusstsein von Einheit ermöglichte. Tatsächlich war seine große Leistung die Durchsetzung des Wortes »deutsch«. Er legte damit den Grundstein für eine gemeinsame Kultur, für das Entstehen von Literatur: Eine Sprache, eine Schrift waren für die Formung seines Imperiums von unschätzbarer Bedeutung. Überall im Reich entstanden Klöster, Bibliotheken und Schulen, die von ihm gefördert wurden. Die Schrift, die wir heute noch verwenden, geht auf diese Reform zurück: Die karolingische Minuskel war das Vorbild unserer Kleinbuchstaben.
Was Sie vor diesem Hintergrund natürlich nicht vermuten: Karl der Große selbst war Analphabet. Noch als alter Mann soll er in schlaflosen Nächten mühsam versucht haben, endlich lesen und schreiben zu lernen.
Nach der Integration des sächsischen Gebiets in sein Imperium, nach der Taufe Widukinds, über dessen weiteres Schicksal wenig bekannt ist, konzentrierte sich Karl auf andere Projekte, vor allem auf die Etablierung eines festen Regierungssitzes. Karl wählte Aachen. Mit seinen warmen Quellen und ausgedehnten Wäldern, gelegen im Kerngebiet des Imperiums, sollte es zur prächtigsten Stadt seines Reiches werden. Er ließ eine riesige Anlage errichten (Baubeginn vermutlich 793/94). Sie umfasste Regierungsgebäude, Räume für die königliche Familie, Garnisonsunterkünfte, einen Gerichtssaal und ein Studienzentrum mit Bibliothek. Geistlicher Mittelpunkt war die Pfalzkapelle, heute der Aachener Dom. Er galt schon bei den Zeitgenossen als der prächtigste Kirchenbau diesseits der Alpen. Später haben sich 33 deutsche Herrscher auf Karl berufen und wurden hier zwischen dem Ende des neunten Jahrhunderts und dem Jahr 1531 gekrönt.
Mit seiner eigenen Krönung 800 in Rom hat Karl der Große Geschichte geschrieben, sie erregte schon zu seiner Zeit höchste Aufmerksamkeit, galt als Sensation. Zum ersten Mal wurde ein Kaiser, der zudem aus einem anderen Reich als dem römischen stammte, von einem Papst in sein Amt gesetzt, der allein die Befugnis dazu beanspruchte. Deshalb musste Karl ihn als sein geistliches Oberhaupt anerkennen. Umgekehrt gewährte der Kaiser der römischen Kirche Schutz, auch gegen die byzantinische Vorherrschaft. Entsprechend war es die Pflicht des Stellvertreters Petri, ihm als seinem weltlichen Herrscher zu huldigen.
Damit erfüllte sich für Karl den Großen eine Vision: die Allianz zwischen Papst und Herrscher, zwischen Reich und Kirche, zwischen Religion und Volk, eine Verbindung von Schwert und Kreuz. Die Krönung Karls begründete das mittelalterliche Kaisertum, das tausend Jahre lang als Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation Bestand haben sollte, bis 1806.
Gleichzeitig wurde mit diesem Akt der Krönung, mit dem sich der Kaiser an die Zustimmung und Segnung durch den Papst in Rom band, ein jahrhundertelanger Konflikt angelegt, der später der »Investiturstreit« genannt werden wird. Es ging um die Frage: Wer ist der Stärkere? Der Papst oder der Kaiser?
Dieser Kampf zwischen der kirchlichen und der weltlichen Macht prägte vor allen Dingen das späte elfte Jahrhundert. Seine Zuspitzung erfuhr er 1076 mit dem Streit zwischen dem deutschen König Heinrich IV. und Papst Gregor VII. Sie waren die Hauptprotagonisten in einem dramatisch angelegten Szenario, das für immer verbunden sein wird mit dem Namen eines Ortes, einer Burg: Canossa.
19. Wer ist der Größte im ganzen Land?
Nach Canossa gehen wir nicht.« Es war Kanzler Otto von Bismarck, der am 14. Mai 1872 im Deutschen Reichstag den Bußgang Kaiser Heinrichs IV. 800 Jahre zuvor wieder in Erinnerung rief, und die Anspielung war durchaus nicht abwegig. Sie war die Reaktion auf die Ablehnung des als deutscher Botschafter benannten Kardinals Hohenlohe durch Papst Pius IX. Aber sie markierte gleichzeitig den Höhepunkt des Kulturkampfes zwischen dem 1871 gegründeten Deutschen Reich und der katholischen Kirche über das Schul- und Bildungswesen, der zu einem Grundsatzkonflikt zwischen den Ansprüchen des modernen Staates und den kirchlichen Traditionen wurde.
Nach Canossa gehen wir sehr wohl. Doch folgen Sie uns bitte zunächst an einen anderen Ort: nach Speyer. Die Stadt war Sitz der Salier, die hier auch den größten Dom der Welt errichtet hatten - Inbegriff königlicher Macht und christlichen Kaisertums. Hier wurde Heinrich IV. 1053 schon als Vierjähriger deutscher König. Sein Vater litt an Gicht und musste sich beizeiten um seine Nachfolge kümmern. Gewählt wurde der minderjährige Heinrich von den deutschen Fürsten, erst ihr Treueschwur machte ihn zum Herrscher. Und zum ersten Mal passierte etwas, das so niemand erwartete hatte: Die Fürsten - unzufrieden mit der Amtsführung Heinrichs III. - banden ihre Unterstützung für den noch kleinen Mann an eine Bedingung: Er sollte ein gerechter König werden. Hier deutete sich eine Hypothek für den jungen Herrscher an, die den späteren Investiturstreit nachhaltig beeinflussen sollte.
Читать дальше