Das schafften auch die serbischen Mineure nicht, die Mehmed angeworben hatte, um durch Tunnelgrabungen und unterirdische Explosionen die Festungsmauern zum Einsturz zu bringen oder wenigstens zu beschädigen. Der Sultan war sich darüber im Klaren, dass dies auf der Gegenseite auch geschehen und der Kampf dann unter Tage fortgesetzt würde. Auch die osmanische Kriegsflotte, die mittlerweile weit über hundert Schiffe aufbieten konnte, schaffte es nicht, ihn in Sicherheit zu wiegen. Er kannte die Kampfstärke der feindlichen Boote, und vor allem kannte er die massive Sperre, die die Byzantiner errichtet hatten, um die türkische Flotte am Einlaufen in das Goldene Horn zu hindern.
Deshalb hatte er sich etwas ganz Besonderes ausgedacht. Sultan Mehmed neigte allerdings nicht dazu, seine Pläne frühzeitig an seine Kriegsherren weiterzugeben. Vor allem nicht, wenn sie so verwegen waren wie jetzt. So waren zunächst die eigenen Truppen verwirrt, bevor auch die Belagerten fassungslos mit ansehen mussten, was sich auf dem Bergrücken des Goldenen Horns abspielte: Die türkischen Schiffe segelten auf dem Landweg in Richtung Festung.
Der osmanische Chefbelagerer hatte die Quadratur des Kreises geschafft, indem er eine Schiffstransportstraße anlegte, um die gesperrte Hafeneinfahrt zu umgehen. Bergaufwärts wurde eine Fahrrinne gegraben und mit Balken ausgelegt. Dann wurde das Holz mit einer dicken Fettschicht überzogen. Mit im Wind flatternden Segeln und der Unterstützung durch sechzig Ochsen sowie zahlreiche Seeleute der Kriegsflotte, die die Seile zogen, glitten die Schiffe wie Schlitten den Berg hinauf und auf der anderen Seite wieder hinunter.
Das Unternehmen lief wie geschmiert und versetzte den Byzantinern einen Schock. Ihre Boote konnten nun die Häfen im Goldenen Horn nicht mehr verlassen. Außerdem mussten sie Truppen heranführen, um die Frontmauern der nun fast völlig umzingelten Stadt auch nach dieser Seite hin zu sichern - Truppen, die an anderer Stelle Lücken rissen.
Die christliche Festung Konstantinopel konnte sich noch weitere fünf Wochen, bis zum 29. Mai 1453, halten. Aber das waghalsige Unternehmen der Türken, eines der merkwürdigsten maritimen Manöver der Kriegsgeschichte, war so etwas wie der Anfang vom Ende.
Mindestens ebenso merkwürdig mutet etwas anderes an: Wie hatte sich nach dem Untergang des Weströmischen Reiches der oströmische Teil mit seiner Hauptstadt Konstantinopel - zumindest staatsrechtlich - noch ein ganzes Jahrtausend halten können? Kurzer Rückblick auf ein erstaunlich langlebiges Provisorium.
Natürlich könnten Sie auch »Byzanz« sagen. Dieser Name ist, wie Sie gemerkt haben, gleichbedeutend mit der Bezeichnung »Konstantinopel« und wurde in der Neuzeit rückblickend auf das ganze Oströmische Reich ausgedehnt. Byzanz war in seinen Anfängen im sechsten Jahrhundert geprägt von römischem Staatswesen, christlicher Religion und hellenistischer, das heißt griechisch inspirierter Kultur. Seine Einwohner fühlten und bezeichneten sich selbst als Römer und erlebten unter Justinian I. (527- 565) einen markanten Aufschwung ihres Reiches. Seine Feldherren Belisar und Narses konnten Teile Nordafrikas von den Vandalen, einige Gebiete Italiens von den Ostgoten und den Südosten Hispaniens von den Westgoten zurückerobern. Damit war Justinian ein mächtiger Kaiser mit einem Reich, das fast die Ausdehnung des alten römischen Imperiums erreicht hatte (mit Ausnahme Britanniens, Galliens und Nordspaniens).
In seiner Regentschaft wurde auch ein einmaliges Zeugnis byzantinischer Kunst errichtet: die Hagia Sophia mit ihrer monumentalen Kuppelbasilika - die der »heiligen Weisheit« gewidmete Krönungskirche der oströmischen Kaiser in Konstantinopel, der größte Kirchenbau der christlichen Antike und des Mittelalters. Die Türken machten sie 1453 zur Moschee, seit 1934 wird sie als Museum genutzt.
Doch von einer langfristigen Stabilität des Reiches konnte keine Rede sein. Schon während der Regierungszeit Justinians war es nur unter größter Kraftanstrengung möglich gewesen, die Grenzen im Osten gegen die sassanidischen Perser zu halten, und die eroberten Gebiete im Westen fielen nach dem Tod des Kaisers zurück an die germanischen Stämme.
Justinians Nachfolger traten ein schweres Erbe an: Sie hatten es mit leeren Staatskassen, religiösen Auseinandersetzungen zwischen verschiedenen christlichen Gruppierungen und mit nun an allen Grenzen auftauchenden Gegnern zu tun. Insbesondere die Kriege gegen die Anfang des siebten Jahrhunderts heftig anstürmenden Perser brachten das Reich an den Rand des Zusammenbruchs. Kaiser Heraklios konnte nur unter Aufbietung der letzten Kräfte Ende 627 in der Schlacht bei Ninive (im heutigen Irak) die Entscheidung für Ostrom herbeiführen.
Beide Imperien gingen geschwächt aus den Kämpfen hervor. Und es dürfte Heraklios wenig getröstet haben, dass die einstige Großmacht Persien schon bald danach, zermürbt von vernichtenden Überfällen durch die Sarazenen, im Chaos versank. Das Perserreich spielte weltgeschichtlich in dieser Form nie wieder eine Rolle.
Byzanz konnte sich immerhin erfolgreich gegen eine vollständige islamische Eroberung verteidigen. Den Arabern war es bis zum Ende des siebten Jahrhunderts gelungen, Ägypten, Syrien, Palästina und ganz Nordafrika zu annektieren. Byzanz konnte sich zwar gegen ihre zahlreichen Attacken verteidigen und dem Untergang entgehen, aber der Preis für das Überleben war hoch: Es verlor zwei Drittel seines Territoriums, damit auch einen Großteil seiner Steuereinkünfte, und war nun auf die Stadt selbst, Kleinasien, die Ägäis und einige Küstengebiete in Griechenland beschränkt.
Auch das ausgehende achte Jahrhundert war geprägt von intensiven Abwehrkämpfen in alle Himmelsrichtungen. Zweimal wurde die Hauptstadt erneut von den Arabern belagert, zweimal (678 und 717/18) gelang es Byzanz, die Gefahr unter anderem durch den Einsatz des sogenannten »griechischen Feuers« - einer militärischen Brandwaffe, einer Vorform des Flammenwerfers - abzuwenden.
Die Araber stellten in der Folgezeit keine wirkliche Bedrohung mehr dar, dafür zeigten sich an den nördlichen Grenzen in Gestalt der vordringenden Slawen neue Feinde. Aber auch sie wurden nicht nur aufgehalten, sondern Byzanz konnte sogar Teile der von ihnen in Griechenland besetzten Regionen zurückgewinnen. Doch auch jetzt kam der Balkan nicht zur Ruhe: Die Bulgaren kamen ins Spiel und sollten in den nächsten Jahrhunderten mit ihrer aggressiven Expansionspolitik Byzanz immer wieder in Bedrängnis bringen.
Wir ersparen Ihnen jetzt einige Kapitel und Ereignisse, die Byzanz allerdings nicht erspart blieben: Wechsel der Dynastien, die sich teilweise gewaltsam vollzogen; innenpolitische Zwistigkeiten (etwa der zermürbende Bilderstreit, ausgelöst durch Leo III., der Ikonen als heidnisch deklarierte und verbot); Kämpfe zwischen christlichen Gruppen; Streitigkeiten mit dem Papst in Rom um die Vormachtstellung. In der Zusammenschau all dieser Erschütterungen und Bedrohungen ist es mehr als verwunderlich, dass Ostrom immer noch existierte. Und nicht nur das: Unter den Kaisern der makedonischen Dynastie im zehnten und frühen elften Jahrhundert erreichte Byzanz noch einmal den Status einer Großmacht.
Für diesen vorübergehenden Erfolg waren mehrere Faktoren verantwortlich: Die territorialen Einbußen waren zwar schmerzlich, machten aber auch mehr Einheitlichkeit möglich. Es gab einen stabilen Beamtenapparat, eine effiziente Verwaltung, eine gemeinsame Sprache - das Mittelgriechische hatte Latein abgelöst. Der nach wie vor florierende Handel wurde unterstützt durch eine ansehnliche Flotte. Reformen des Heerwesens sorgten für eine kalkulierbare und kostensparende militärische Stabilität.
So schien sich unter Basileios II. (957-1025) Byzanz tatsächlich wieder zu einem Großreich zu entwickeln. Seine Vorgänger hatten den oströmischen Einfluss bereits bis nach Syrien und kurzzeitig sogar bis Palästina ausdehnen können; Basileios gewann nun während seiner Regierungszeit Süditalien zurück und sicherte zudem die Grenzen auf dem Balkan: Er eroberte in jahrelangen Kämpfen das erste bulgarische Reich, was ihm den Beinamen Bulgarok-tonos (»Bulgarentöter«) einbrachte. Im Jahr 1018 wurde Bulgarien eine byzantinische Provinz. Das Oströmische Reich erstreckte sich jetzt von der Adria bis nach Armenien und vom Euphrat bis zur Donau.
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