8. Die Frösche am Teich und die Demokratie
Schöner, heiterer, anmutiger als auf dieser idealen Ansicht des Malers und Architekten Leo von Klenze aus dem Jahr 1846 ist die Akropolis, Wahrzeichen und einst auch religiöses Zentrum der Stadt Athen, wahrscheinlich nie porträtiert worden. Dem Hofbauintendanten des bayerischen Königs Ludwig I. wird nicht umsonst nachgesagt, er habe nicht nur München in ein Athen des 19. Jahrhunderts verwandeln, sondern anschließend wiederum Athen in ein zweites München verwandeln wollen.
Als Ludwigs Sohn Otto 1832 den Thron Griechenlands bestieg, war diese Chance da. Aber die städtebauliche Umgestaltung Athens blieb weitgehend Vision. Wegweisend waren dagegen Leo von Klen-zes Pläne für den Schutz und die Restaurierung der Akropolis, die er denn auch so liebevoll malte, dass der Betrachter unmittelbar in das Gemälde und damit zugleich in die griechische Geschichte eintreten möchte.
Sie beginnt nicht hier, diese Geschichte, sie kommt, wie Sie sehen werden, eher hierher zurück. Aber der Blick auf die alles dominierende Burg und die hoch aufragenden Tempel, Standbilder und Säulenhallen ruft schon jetzt die Frage in Erinnerung, die es so lange nicht gab, bis die Griechen sie endlich und erstmals in der Geschichte stellten: die Frage, wer eigentlich herrschen soll und darf - ein König, ein Monarch, der Adel oder vielleicht sogar das Volk?
Aber zuvor musste erst einmal jemand zu fragen anfangen.
Er kam aus der Hafenstadt Milet im südwestlichen Kleinasien, Zentrum altgriechischer Kultur und wichtigster Umschlagplatz für den Handel mit dem Orient. Er liebte die zerklüftete, buchtenreiche Küste seiner ionischen Heimat und den Blick über das Meer nach Westen, aber ebenso vertraut war ihm der Fluss aus dem Osten, der Mäander, der allen Stromschleifen der Welt den Namen geben sollte und nach windungsreichen 584 Kilometern hier bei Milet sein Ziel fand: die Ägäis.
Er war der Erste, der nach der Ordnung der Dinge, nach dem großen Ganzen und seinen Teilen fragte. Er war der Erste, der überhaupt Fragen stellte. Nach der dichterischen Gründungsurkunde der abendländischen Kultur, die um 750 v. Chr. durch Homers Versepen »Ilias« und »Odyssee« geschaffen worden war, stiftete er fast 200 Jahre später ihr philosophisches und wissenschaftliches Fundament.
Allen, die nach ihm kamen, gab er die Frage nach dem Urstoff mit auf den Weg. Dabei hatte er sie längst - und sehr plausibel - beantwortet: Das Wasser ist es, aus dem alles andere hervorgeht. So leuchtete Thales von Milet (um 600 v. Chr.), mit dem das Denken beginnt, allen voraus, die ihm folgten und an ihm Maß genommen haben, ob in der griechischen Philosophie oder in der Moderne.
Die ersten seiner Nach-Denker, die das Leuchtsignal auffingen und ihrerseits weitertrugen, gingen als ionische Naturphilosophen oder auch als sogenannte Vorsokratiker in die Geschichte ein.
Allesamt waren sie keine Wolkenschieber, sondern Praktiker, Mechaniker, Techniker, Erfinder. Über Anaximander, der den unvergänglichen Urstoff hinter der Vergänglichkeit, der Wandlungsfähigkeit der Natur suchte, und Anaximenes, der ihn in der Luft gefunden zu haben glaubte, spannt sich die Kette der Denker bis zu Pythagoras, der in den Zahlen die Bausteine und das eigentliche Geheimnis der Welt erkennt, zu Parmenides, der über Schein und Sein philosophiert, und schließlich zu Heraklit, der aus dem Urfeuer des Logos, der Weltvernunft, die Vielfalt und den Wettstreit der Dinge hervorgehen sieht.
»Der Dunkle« wurde Heraklit aus dem ionischen Ephesus genannt, und entsprechend verrätselte Zitate werden ihm zugeschrieben: »Zeit ist ein brettspielendes Kind, Königsmacht die eines Kindes.« Dass alles fließt (panta rhei) und in Bewegung ist, nichts von Bestand, hat er uns gelehrt. Und uns aufgegeben, die »Einheit der Gegensätze« zu suchen. Aber darüber sollten wir Demokrit nicht vergessen, der die Atome, die kleinsten Einheiten alles Bestehenden, in die Philosophie und die Naturwissenschaft einführte.
Ihnen allen wies Thales den Weg - und ermunterte sie, selber unterwegs zu sein.
So wie Jahrtausende später auf europäischem Boden die »Grand Tour« die Bildungshungrigen aus dem Norden zu den klassischen Stätten des Südens führte, so zog es die frühen griechischen Denker in die Kulturoasen der damals bekannten Welt: nach Ägypten vor allem, wo Thales die Höhe der Pyramiden nach der Länge ihres Schattens berechnet haben soll, aber mehr und mehr auch in den babylonisch-phönizischen Nahen Osten.
Reisende bringen in der Regel Souvenirs mit nach Hause. Bei den Vorsokratikern waren es sprachliche, biologische, geografische, mathematische, astronomische Kenntnisse. Die erste Karte der bewohnten Erde, die Einteilung des Sonnenjahres in 365 Tage, die Idee der Sonnenuhr und andere Kulturgüter fanden auf diese Weise den Weg nach Westen. Und die erste wissenschaftliche Erklärung einer Sonnenfinsternis, der vom 28. Mai 585 v. Chr., durch Thales von Milet, woraus man später eine »Vorhersage« machte.
Die Heimatstadt der Naturphilosophen Thales, Anaximander und Anaximenes, im Grenzbereich griechischer und persischer Einflussnahme, unterschiedlicher Rassen, Sprachen und Religionen gelegen, hatte sich seit Beginn des ersten Jahrtausends v. Chr. zu einer reichen und mächtigen Handelsmetropole entwickelt. Hier endeten die großen Karawanenstraßen, die aus dem Innern des asiatischen Kontinents kamen, hier wurden die von dort ankommenden Waren auf Schiffe in Richtung Westen verladen. Wer zur Zeit des Thales von Hellas sprach, meinte in der Regel dessen reichste Stadt: Milet.
Athen musste noch warten, bis es geschichtsträchtig wurde. Und die Akropolis, wie Leo von Klenze sie malte, war noch gar nicht gebaut.
Dafür war inzwischen das gesamte Mittelmeer in Bewegung geraten. Es wurde zum Schauplatz einer gewaltigen friedlichen Mobilmachung. Und das Musterbeispiel Milet wurde vervielfältigt. Im Zuge einer weitgespannten Expeditions- und Expansionswelle gründeten die Griechen zwischen dem achten und dem sechsten Jahrhundert v. Chr. an den Mittelmeerküsten und am Schwarzen Meer fast 200 neue Kolonien. Manche von ihnen wurden erfolgreicher als ihre Mutterstädte.
Zu den ersten neuen Stützpunkten gehörte das 733 v. Chr. auf Sizilien gegründete Syrakus, ein Ableger von Korinth. In Süditalien errichteten die Griechen ein so dichtes Netz von Neuansiedlungen, dass die Region später Magna Graecia (lat. = Großgriechenland) genannt wurde. Um 630 v. Chr. entstand in Nordafrika die Kolonie Kyrene, gegründet von Griechen aus Thera, die vor der Trockenheit und einer Hungersnot geflohen waren. Kyrene entwickelte sich zu einer der blühendsten Städte des Altertums.
Im Osten erreichten die Siedler das Schwarze Meer, breiteten sich von Byzanz bis nach Kertsch auf der Halbinsel Krim und Trabzon, das alte Trapezunt, an der Nordküste der anatolischen Halbinsel aus. Massalia, das heutige Marseille, gegründet um 600 v. Chr., und Neapolis (griech. = Neustadt), das heutige Neapel, wurden zu Metropolen der Antike und des Mittelalters. Bis in die Gegenwart sind die beiden ehemals griechischen Kolonien bedeutende Großstädte geblieben.
Übervölkerung und Landnot im griechischen Kernland und auf den Inseln, aber auch handfeste Handelsinteressen waren die wesentlichen Ursachen der Kolonisation. Flucht aus der Armut, der Versuch, eine neue Existenz aufzubauen, aber auch Neugier, Abenteuerlust und andere individuelle Motive kamen hinzu. Im Ergebnis milderte die Auswanderungswelle nicht nur die sozialen Probleme im Mutterland, sie schenkte den Griechen auch einen neuen, selbstbewussteren Blick auf die mediterrane Welt und vermittelte ihnen ein stärkeres Gemeinschaftsgefühl.
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