Die Bösewichte, die dieses Chaos zu verantworten haben, gelten seit Langem als ausgemacht. Es sind die »Seevölker«. Aber da sie schwer zu identifizieren und eher ein »Phänomen«, um nicht zu sagen ein Seegespenst, geblieben sind, ist der Steckbrief unvollständig geblieben.
Auf jeden Fall leisten sie ganze Arbeit, auch wenn nicht alles, was umstürzt oder auseinanderbricht, auf ihr Konto geht. Oft wirken mehrere Faktoren zusammen, aber stets stehen sie mit auf der Täterliste. Und es geht Schlag auf Schlag.
Um 1200 v. Chr. wird das hethitische Hattusa, die Hauptstadt mit dem Löwentor, von seinen Bewohnern verlassen. Das Reich Hatti, wie sie es nannten, geht unter. Mit grandiosen Bildwerken, einer fortschrittlichen Rechtsprechung, einem maßvollen Umgang mit fremden Menschen und Göttern sowie einer Reihe lautmalerischzungenbrechender Herrschernamen wie Hattusili, Mursili, Telipinu, Tudhalija oder Suppiluliuma, die - zugegeben - immer schon schwer zu behalten waren. Schon in der griechischen Antike sind die Hethiter vergessen. Ihre Königsgräber harren immer noch der Entdeckung. Die Debatte über innere und äußere Bedrohungen als Ursache des Untergangs hält an.
Ungefähr zur selben Zeit beginnt auch die mykenische Kultur, deren Kriegsherren Homer nach Troja schickt, zu verfallen: Überfälle, Plünderungen und Brände zerstören ihre wichtigsten Zentren auf dem griechischen Festland und auf Kreta. Andere Stätten erleiden einen längeren, qualvollen, glanzlosen Niedergang. Die letzten mykenischen Paläste werden 1070 v. Chr. aufgegeben.
Die kassitische Dynastie, deren Könige seit über vier Jahrhunderten in Babylon regiert haben, erlischt 1154 v. Chr.
Das assyrische Reich in Mesopotamien, das vom Kupferhandel mit Anatolien profitierte und um 2000 v. Chr. zur Großmacht aufgestiegen war, leidet unter zermürbenden Kleinkriegen. Erst später, im ersten Jahrtausend v. Chr., werden die Assyrer wieder an Macht und Einfluss gewinnen.
Die indogermanischen Philister, seit der Bibel bis heute schlecht beleumdet, fallen in - das später nach ihnen benannte - Palästina ein und setzen sich dort fest.
Auch das ägyptische Reich gerät in arge Bedrängnis, als die Schiffe unbekannter Aggressoren die nordafrikanischen Küsten erreichen. Aber in zwei siegreichen Schlachten, die die Könige Merenptah und Ramses III. 1208 und 1177 v. Chr. führen, gelingt es den Ägyptern, die Angreifer aufzuhalten. Das Ende des Neuen Reiches ist dennoch vorprogrammiert.
Da verschiedene antike Quellen erwähnen, dass die Eindringlinge auf dem Seeweg gekommen waren oder sogar »auf Schiffen lebten«, haben die Historiker sie als Seevölker bezeichnet. Und ihre verheerenden Attacken auf die Mittelmeerländer - als handle es sich um ein Naturereignis - als Seevölkersturm. Organisierte Piraterie und Freibeuterei dürften allerdings kaum ausgereicht haben, um die gewaltigen gesellschaftlichen und kulturellen Umwälzungen am Ende des zweiten Jahrtausends v. Chr. hervorzurufen.
Wer also waren, woher kamen die Seevölker?
Eine indogermanische Invasion vom Balkan oder von Mitteleuropa aus, ein Zusammenschluss ägäischer, anatolischer und vorderasiatischer Völker, eine von Mykene ausgehende Aggression (womit Homer wieder ins Spiel käme) - die Erklärungen für den Seevölkersturm fielen bisher eher diffus als konkret aus und haben es schwer gemacht, Ursache und Wirkung voneinander zu trennen.
Konsens herrscht aber zumindest darüber, dass es sich um Wanderbewegungen höchst unterschiedlich zusammengesetzter bronzezeitlicher Kriegerverbände handelte. Ihre Routen führten auch - aber wahrscheinlich nicht nur - über das Meer, das Mittelmeer. Der Blick der Historiker richtet sich dabei, was den Ausgangspunkt angeht, zunehmend mehr nach Westen als nach Osten.
So oder so ähnlich könnte es sich abgespielt haben: Im italischen und im ägäischen Raum gerieten verschiedene Stämme während des 13. Jahrhunderts v. Chr. in Bewegung und setzten in der Folge die Nachbarvölker unter Druck. Diese waren dann zum Teil wiederum gezwungen, in andere Gebiete auszuwandern - ein Dominoeffekt mit epochalen Auswirkungen, wie die österreichischen Historiker Reinhard Jung und Mathias Mehofer aufgrund neuer Forschungsansätze bilanzieren: Die Seevölker lösten eine dauerhafte Krise im östlichen Mittelmeerraum aus.
Diesem Modell zufolge nahm der Seevölkersturm seinen Anfang in Italien und griff dann in einem längeren Prozess nach Osten über, zunächst auf das mykenische Griechenland, dann auf die Imperien Vorderasiens und Afrikas. Wo immer die Seevölker auftauchten, stifteten sie Unruhe, wiegelten sie die Einheimischen auf, provozierten Unruhen und Aufstände. Überall kam es zu ähnlichen Entwicklungen: Provinzen fielen ab, Stämme erhoben sich, Bevölkerungsgruppen setzten sich in Bewegung, Auflösungsprozesse begannen. Schritt für Schritt entstand so der Seevölkersturm, der das Gespenst des »dunklen Zeitalters« heraufrief.
Da historische Quellen für diese Zeitphase fehlen, hat man umso mehr die dichterische Quelle - das Werk Homers, das erste Zeugnis vom Gebrauch der Schrift bei den Griechen - nach Anhaltspunkten durchsucht. Das ist plausibel, denn zwischen dem Fall Trojas um 1200 v. Chr. und der Entstehung von »Ilias« und »Odyssee« im achten Jahrhundert v. Chr. liegen eben jene ominösen und »sprachlosen« Jahrhunderte, an deren Kenntnis es den Historikern mangelt. Und in der Tat lassen sich am Widerschein des brennenden Ilion die brüchigen Konturen der Epoche erkennen. Homer ist deshalb prompt zum Dichter des »dunklen Zeitalters« gekürt worden. Aber ein Dichter ist kein Berichterstatter.
Dennoch gibt sein Werk Hinweise, vor allem im Hinblick auf jene Region, in der frühzeitig die Dominosteine gefallen waren: auf die sich neu entwickelnde Welt der Griechen. Die alte Palastkultur der Mykener, definiert durch den hohen Rang und die Aura ihrer Krieger, deren Heldentaten es zu rühmen gilt, schimmert zwar in der »Ilias« noch deutlich durch. Aber in der »Odyssee« darf auch das einfache Volk, vertreten durch Hirten und Bauern, den Lauf der Dinge mitbestimmen. Und die militärischen Führer treffen ihre Entscheidungen nicht mehr selbstherrlich allein, sondern Homer lässt sie Krieger- oder sogar Volksversammlungen einberufen, was im mykenischen Zeitalter nicht möglich war.
Das Griechenland Homers ist zwar in kleine Königreiche eingeteilt. Aber deren Herrscher sind eher Grundbesitzer als Machtträger, und der Alltag der Könige verläuft kaum anders als der ihrer Untertanen: »Für Odysseus ist es selbstverständlich, sein Feld zu bestellen, Nausikaa, Tochter des Königs der Phäaken, wäscht gemeinsam mit den Sklavinnen die Wäsche der Familie, und die Königinnen verbringen den Tag mit dem Spinnen von Wolle« (Catherine Salles).
»Ilias« und »Odyssee« sind als ein Gemisch aus sehr unterschiedlichen Epochen zu lesen. Homer beschreibt Ereignisse, die er im 12. Jahrhundert ansiedelt, und lässt dabei Bräuche seiner Zeit wie auch sehr viel ältere Wirklichkeiten einfließen. Die beiden Versepen tragen die Erinnerung an das heroische Zeitalter der mykenischen Kultur in diese neue Zeit einer sich festigenden Welt des Griechentums hinüber. Eine Welt, in der die Machtstellung der Könige allmählich schwindet. An ihre Stelle tritt eine Art Selbstverwaltung der Bürger in kleinen autonomen Gemeinschaften, die durch den Adel und durch Grundeigentümer gelenkt werden. Das System der Polis entwickelt sich.
Und die griechische Glaubens- und Götterwelt gewinnt ihre endgültige Gestalt. Auf dem Olymp nehmen, um Vater Zeus herum, die einschlägigen mythologischen Verdächtigen Platz, denen Homer das Spielfeld zuweist: Sie sind weder allmächtig noch allwissend, denn auch die Götter bleiben - wie die Menschen - der Moira, der Allgewalt des Schicksals, unterworfen.
Und das Trojanische Pferd? Vielleicht ist es ja gut, dass es in der Mythologie geblieben und nicht in die reale Geschichte galoppiert ist. Dort hätte es seinen Ruhm ein knappes Jahrtausend später an einem hochkarätigen Konkurrenten messen müssen: an Bukeph-alos, dem Pferd Alexanders des Großen.
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