Bevor wir zum Ausgangspunkt unserer Reise zurückkehren, empfehlen wir übrigens einen Abstecher zum Kultplatz von Goseck, einer Kreisgrabenanlage von 71 Metern Durchmesser, kaum zwanzig Kilometer vom Versteck des Nebra-Schatzes entfernt. Hier könnten Sie, am konkreten Beispiel einer der berühmten »Kathedralen der Steinzeit«, die Anfänge der systematischen Himmelsbeobachtung nachempfinden: 2500 bis 3000 Jahre vor Fertigung der Bronzescheibe - und damit auch deutlich vor dem Baubeginn von Stonehenge oder den astronomischen Aktivitäten der Babylonier und der Pharaonen.
Wir kehren zurück zum Sonnenwagen von Trundholm, Meisterwerk des Nordens, was Bronze- und Goldschmiedetechnik angeht, gefertigt um 1400 v. Chr., also wesentlich später als die Himmelsscheibe von Nebra, aber durch das Bildmotiv des Sonnenkreislaufs markant mit ihr verbunden.
In der Bronzezeit wächst Europa, wächst die antike Welt zusammen. Aber der neue Werkstoff ist nur ein Glied in der Kette der Gemeinsamkeiten. Das zweite Element ist die Religion. Der Norden wird in dieser bronzezeitlichen Weltordnung nicht durch stolze Herrscher oder mächtige Reiche vertreten. Aber er ist auf einzigartige Weise innovativ und hält mit dem Sonnenschiff von Nebra und dem Sonnenpferd von Trundholm das Copyright für zwei religiöse Bildmotive, die Kulturgeschichte schreiben werden.
7. Ein Gespenst kommt selten allein
Sie zieht sich wie ein Schatten, ein düsterer Nebel durch die Geschichtsbücher - jene Epoche zwischen 1200 und 800 v. Chr., die man das »dunkle Zeitalter« nennt. Man könnte auch von einem Bermuda-Dreieck der Geschichte sprechen, da es nur spärliche schriftliche Zeugnisse aus dieser Zeitphase gibt. Ihr Merkzeichen: Völkerwanderungen, Machtverschiebungen, kriegerische Auseinandersetzungen und Umwälzungen vor allem im östlichen Mittelmeerraum, die auch die gewaltigen Imperien des Nahen Ostens erschüttern.
Das Beziehungsgeflecht der bronzezeitlichen Weltordnung, die auf gesicherten diplomatischen Kontakten und weitgespannten Handelsbeziehungen zwischen den verschiedenen Staaten beruhte, wird zerrissen. Es ist eine unheimliche, gespenstische Epoche.
Und ein Gespenst gibt es auch.
Immer wieder ist die Szenerie beschrieben worden, immer von Neuem berührt sie jeden, der sich auf sie einlässt. Am besten, Sie mischen sich unter die trojanischen Krieger, die in der Morgendämmerung auf den Wehrgängen der Stadtmauer ihren Dienst tun, und betrachten das Geschehen von dort.
Die Wachen auf den hohen Befestigungsmauern Trojas trauen bei Tagesanbruch ihren Augen nicht: Der Strand, an dem gestern noch die Zelte der griechischen Armee standen, ist leer, und auch die feindlichen Schiffe sind offensichtlich verschwunden. Stattdessen blickt ein merkwürdiges Ungetüm, das bei Sonnenaufgang als ein riesiges Holzpferd erkennbar wird, von dort, wo sich das langjährige Kriegslager der Griechen befand, in Richtung Stadt.
Die Nachricht verbreitet sich wie ein Lauffeuer, und Sie sollten die trojanische Stadtmauer jetzt wieder verlassen, denn dort wird es bald ungemütlich. Allen Warnungen, Befürchtungen, Prophezeiungen zum Trotz und obwohl sie allen Grund haben, eine griechische Täuschung zu vermuten, ziehen die Trojaner das verdächtig aussehende Monstrum, eine Erfindung des listenreichen Odysseus, in die Stadt. Die im Bauch des Pferdes verborgenen Soldaten klettern, als die Nacht kommt, aus ihrem Versteck und öffnen das Stadttor. Der Zorn der griechischen Truppen, die ihren Rückzug nur vorgetäuscht hatten und nun - nach zehnjähriger Belagerung - über die Trojaner herfallen, entlädt sich in einem Blutrausch ohnegleichen.
Blutrausch hin, Blutrausch her. Der Trojanische Krieg - ein Gemeinschaftswerk von Menschen und Göttern, mit einer Teilnehmerliste klingender Namen von Achilles und Agamemnon bis zu Hektor und Paris - ist nicht nur zentrales Ereignis der griechischen Mythologie. Er wurde durch die beiden großen Versepen »Ilias« und »Odyssee«, in denen der Dichter Homer seine entscheidenden Phasen und sein Ende schildert, auch so etwas wie die Gründungsurkunde der europäischen Kultur. Das hölzerne Ross, das zum berühmtesten Pferd der Geschichte, aber auch zum Paradebeispiel für die »Torheit der Regierenden« (Barbara Tuchman) geworden ist, gehört ebenso zum allgemeinen Bildungsgut wie die Irrfahrten des Odysseus. Die Sensationsfunde Heinrich Schliemanns in den 1870er-Jahren taten ein Übriges, um den Mythos Troja stark und schillernd zu machen.
Versuchen wir zu sortieren und schieben dabei eine der verzwicktesten Fragen der abendländischen Philologie - ob es denn den blinden Dichter Homer als den gemeinsamen Autor von »Ilias« und »Odyssee« wirklich gegeben hat - gleich mal beiseite.
Homers Troja aber hat es, mit hoher Wahrscheinlichkeit jedenfalls, wirklich gegeben. Schliemann fand seine Überreste - darin ist sich die Fachwelt mittlerweile einig - in dem 15 Meter hohen Hügel Hisarlik, der strategisch günstig an der Nordwestspitze Kleinasiens nahe dem Eingang der Dardanellen liegt. Erwiesen ist damit auch, dass es nicht nur das eine Troja gab, dem das Pferd den Untergang brachte, sondern dass der Ort in vielen verschiedenen Epochen der Geschichte präsent war, mehrfach erobert, durch Feuer und Erdbeben beschädigt, von seinen Bewohnern verlassen und immer wieder neu aufgebaut wurde. Zehn Siedlungsschichten wurden bisher nachgewiesen, die bis ins dritte, nach jüngsten Funden vielleicht sogar bis ins fünfte Jahrtausend v. Chr. zurückreichen.
Der berühmte (sogenannte) »Schatz des Priamos«, den Schliemann als Indiz und Zeitzeichen für den Trojanischen Krieg betrachtete, wird heute der Siedlungsschicht II (2600 - 2300 v. Chr.) zugeordnet. Damit ist er ein Jahrtausend älter als die offenbar von gravierenden Zerstörungen betroffene Schicht Troja VII b, die nach Meinung der meisten Experten den historischen Hintergrund für Homers Dichtungen abgeben könnte. Sie wird auf ungefähr 1200 v. Chr. datiert.
Das westlich zentrierte Troja-Bild Heinrich Schliemanns, der den Trojanischen Krieg fast für eine Art innergriechischer Angelegenheit hielt, ist inzwischen gründlich korrigiert worden. Stattdessen richtete sich der Blick der Forscher nach Osten: auf die Hethiter, neben Assyrern und Ägyptern die dritte Großmacht der Bronzezeit, die den größten Teil Anatoliens beherrschte und frühzeitig über Eisenwaffen verfügte.
In hethitischen Texten ist mehrfach von einer Stadt namens Wilusa die Rede. Wilusa aber, folgt man den Sprachwissenschaftlern, ist identisch mit Troja, das die Griechen zeitweise auch Wilios, Ilios oder Ilion nannten, woraus wiederum der Titel von Homers »Ilias« abgeleitet ist. Außerdem wurde 1995 am Hügel Hisarlik ein Siegel in luwischer Sprache gefunden, die auch bei den Hethitern üblich war.
Das Ilion der späten Bronzezeit, so lässt sich schlussfolgern, lag also in direkter Nähe, genauer gesagt am Westrand des hethitischen Reiches. Möglicherweise war Wilusa ein vom starken Nachbarn abhängiger Vasallenstaat oder ein kleines autonomes Königtum. Auf jeden Fall befand es sich in der Einflusssphäre der Hethiter und gehörte eher dem anatolischen als dem mediterranen Kulturkreis an.
Gegen die verheerende und diesmal endgültige Zerstörung Trojas war das kein Schutz. Im Rückblick zeigt sich eher eine Schicksalsgemeinschaft. Die Auslöschung des kleinen, aber wehrhaften Ilion und der Untergang des großen Hethiterreiches gehören beide zu jenem umfassenden Katastrophenszenario, das die ominösen »dunklen Jahrhunderte« einleitet. Die Welt des östlichen Mittelmeerraums gerät aus den Fugen. Und der Name Troja wird später - durch die Epen Homers - zur markantesten Chiffre für eine Welt, die sich in Auflösung befindet.
Читать дальше