Beim Tod ihres Vaters war sie acht Jahre alt gewesen. Ihre kindliche Fantasie hatte sie auf den eigentlich ganz natürlichen Gedanken gebracht, ihr Daddy müsse wohl immer noch in seinem Körper stecken und alles mitbekommen, könne es aber niemandem erzählen, da dieser Körper ja tot war. Wie nur ein Kind es vermag, hatte sie sich ausgemalt, wie er nach dem Trauergottesdienst hilflos in dem mit Satin ausgekleideten Sarg liegen würde. Bestimmt würde er hören, wie der Deckel klickend einrastete, wenn der Leichenbestatter den Sarg zum letzten Mal verschloss, bestimmt würde er merken, wie ihn ewige Dunkelheit umfing. Sie stellte sich vor, wie ihn die Sargträger später auf die Schulter hieven und auf dem Weg zum Grab durchschütteln würden. Während sie den Sarg langsam in die Grube senkten, würde er gedämpft verschiedene Geräusche wahrnehmen: die Psalmen und Gebete des Gemeindepfarrers, das dumpfe Aufschlagen der Erde auf dem Sargdeckel, wenn der Totengräber mit dem Spaten kam. Nach und nach würden diese Geräusche verstummen ... Und schließlich würde Stille eintreten, ewige Stille. Nur das fast lautlose Werk der Zeit, die Verwesung mit sich brachte, würde diese Stille stören.
Als erwachsene Frau war Krista zu dem Schluss gekommen, dass sie anders von dieser Erde scheiden wollte. Lieber wollte sie, dass sich ihre Seele in einem alles vernichtenden Feuer aus dem Körper löste. Die Alternative kam ihr noch unheimlicher vor, denn dabei musste sie darauf vertrauen, dass Erde und Verwesung nach und nach ihr grausames Werk verrichten und die Seele freisetzen würden. (Falls es denn eine Seele gab; Krista war sich darüber nie ganz schlüssig geworden.)
So sehr Kristas unerwartete Auslassungen über den Tod Scott auch beunruhigt hatten - wie die meisten Menschen hatte er stets geglaubt, seiner Familie und ihm selbst könne niemals etwas zustoßen, wie ihm jetzt klar wurde -, hatte er eingewilligt: Sollte sie vor ihm sterben, würde er sie einäschern lassen. Es war ihm mehr darum gegangen, das Thema abzuschließen, als eine verbindliche Abmachung mit Krista zu treffen. Doch jetzt würde er sein Versprechen einlösen müssen.
»Kann ich irgendwo telefonieren?«, fragte er eine der Krankenschwestern an den Überwachungsgeräten. »Ich muss einige Ferngespräche führen.«
Die Schwester nickte, wobei sich ihr Gesicht aufhellte. Scott kam es so vor, als sei sie irgendwie erleichtert, was er zunächst befremdlich fand. Doch gleich darauf glaubte er zu verstehen. Seine Erfahrung als Arzt sagte ihm, dass bei der Besprechung, die der Stationsübergabe bei Schichtwechsel vorherging, vermutlich sein Name gefallen war, weil sich das Personal Sorgen um ihn machte. Diese Mädchen hatten in ihrer Ausbildung gelernt, bei betroffenen Familienangehörigen darauf zu achten, ob sie Anzeichen für die Bewältigung der traumatischen Situation zeigten. Bestimmt war ihnen aufgefallen, dass Scott es bislang kaum geschafft hatte, die nötigen Dinge zu veranlassen. Dass er jetzt zu Hause anrufen wollte, war ein gutes Zeichen.
Die Schwester brachte ihn zu dem Angehörigenzimmer, in dem Caroline übernachtet hatte. Mit den Doppelbetten, der Kommode und dem Fernseher auf einer drehbaren Konsole wirkte es wie ein winziges Hotelzimmer.
Sharon McVee, so hieß sie laut Namensschild, deutete auf das elfenbeinfarbene Tastentelefon auf dem Nachttisch zwischen den Betten. »Wählen Sie einfach die Null«, sagte sie. »Und teilen Sie der Dame am Empfang mit, dass Sie am internen Anschluss zwei-fünf-null sind. Dann gibt Sie Ihnen eine Leitung nach draußen und Sie können direkt durchwählen. Sie brauchen sich um nichts weiter zu kümmern, das ist kostenfrei.« Sie lächelte mitfühlend und gleichzeitig distanziert.
»Danke.« Scott ließ sich auf einem der Betten nieder und sah zu, wie Sharon McVee aus dem Zimmer ging und die Tür hinter sich schloss. Dabei musste er daran denken, dass er ihrsicher nie begegnet wäre, hätte sein Leben nicht gewaltsam diese Wendung genommen.
Plötzlich allein, hätte sich Scott am liebsten zurückgelehnt um zu schlafen. Die Normalität dieses Zimmers, an dem nichts bemerkenswert war, machte ihm bewusst, wie nah er einem Nervenzusammenbruch gewesen war, wie fragil die Wirklichkeit seit Carolines Anruf auf dem Flughafen geworden war. In jenem Moment, bevor er wie ein nasser Sack zu Boden gesunken war, hatte sich das nackte Entsetzen mit einem noch stärkeren Gefühl vermengt, in das er sich wie in eine wärmende schwarze Hülle geflüchtet hatte: Es war die dunkle Sehnsucht danach gewesen, allem ein Ende zu machen, alle Verbindungen zu kappen und seiner Frau ins Vergessen zu folgen. Wie hieß es doch gleich in dieser Country-Schnulze? Theregoes my reason for living... Kein Grund mehr weiterzuleben...
Doch es gab noch Gründe, andere Gründe, zum Weiterleben, oder nicht? Es musste so sein, denn er war immer noch da, atmete noch, empfand immer noch Kummer. Kath ist ein wesentlicher Grund, dachte er, während er innerlich Bilanz zog. Das war zwar makaber, aber er konnte nicht anders. Was sonst noch? Dein Berufsleben? Ha! Fünfzehn Jahre — und du kannst das Wissen, die Erfahrung nicht einmal dazu nutzen, deiner Familie oder dir selbst zu helfen. Er sah auf das Telefon, als sei es irgendein völlig fremdartiges Gerät. Und vergiss nicht, dass du Freunde hast ...
Und dann erfasste ihn eine Welle der Erleichterung, denn ihm wurde klar, wen er als Erstes anrufen würde. Seinen besten Freund, den Kumpel, mit dem er zusammen aufgewachsen war, den einzigen Mann auf dieser Welt, der sogar Schläge für ihn einstecken würde: Gerry St. Georges.
In einer Minute, dachte er, ließ sich zurücksinken und schloss die Augen. In einer Minute rufe ich Gerry an. Ohne selbst daran zu glauben, schlief er ein.
Er schlief zwei Stunden, bis er, ein Traumbild von Krista vor Augen, schweißgebadet aus dem Schlaf schreckte. Er hatte sie kalt und steif in der Leichenkammer des Allgemeinen Krankenhauses von Danvers liegen sehen, wo man sie in eine tiefgekühlte, herausziehbare Box verfrachtet hatte.
Als er schließlich bei Gerry zu Hause anrief, nahm niemand ab. Danach versuchte er es bei dessen Dienststelle, wo man ihm mitteilte, Gerry habe die nächsten Tage freigenommen. Die Nächste, die er anrief, war Klara. Als sie sich mit betrunkenem Lallen meldete, hätte er am liebsten sofort wieder aufgelegt und sie zum Teufel geschickt. Aber Schnapsdrossel hin oder her: Schließlich war sie Kristas Schwester und hatte ein Anrecht darauf, zu erfahren, was passiert war.
»Klara, hier ist Scott.« Seine Stimme zitterte stark. »Leider habe ich schlechte Nachrichten.«
Klara gab keine Antwort, allerdings stockte ihr pfeifender Atem plötzlich. In dem erwartungsvollen Schweigen, das darauf folgte, hörte Scott das Echo seiner eigenen Worte wie in einem Tunnel. Diese Worte kamen ihm dermaßen absurd vor, dass er den perversen Drang zu kichern kaum unterdrücken konnte. Scott Benjamin Bowman - der neue Meister der Untertreibung, schoss ihm als verrückter Gedanke durchs Hirn. »Es geht um Krista, sie hat einen Unfall gehabt«, sagte er in die Stille hinein, in der nur ein leises Summen zu hören war. »Sie ist... tot.«
Da waren sie wieder, diese Worte - die Worte, die er im Aufenthaltsraum der Intensivstation leise vor sich hin gemurmelt hatte. Es wurde einfacher, wenn man sie wiederholte. Sie kamen ihm schon nicht mehr so bedeutungsschwer vor wie beim ersten Mal.
Jetzt konnte er Klara wieder atmen hören. Zuerst seufzte sie, dann holte sie tief und zischend Luft, offensichtlich überwältigt von Fassungslosigkeit und Hysterie. Er bekam mit, dass sie am Telefon, das in ihrem Wohnzimmer an der viel frequentierten Hausbar stand, nach Worten suchte, aber es drangen nur unverständliche Grunzlaute heraus.
»Klara«, sagte Scott, »ich brauche jetzt deine Hilfe, allein schaffe ich das nicht.«
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