Verstohlen, als sei es etwas Verbotenes, warf Scott einen Blick auf den Volvo. Von seinem Platz aus konnte er sehen, dass der Wagen vorne böse eingedrückt war, deshalb wandte er den Blick gleich wieder ab.
Wie hatte das passieren können? Unweigerlich drängte sich ihm die Frage auf: Lag es an irgendeinem technischen Versagen? Caroline hatte ihm am Telefon erzählt, Krista habe irgendwelche Probleme mit dem Wagen gehabt. Hatte der Automechaniker in der Werkstatt, die Holley erwähnt hatte, Mist gebaut? Der Volvo war ein ausländisches Fabrikat mit Turboantrieb. Automechaniker ohne spezielle Ausbildung kannten sich damit normalerweise nicht aus. Hatte der Drecksack irgendwie herumgepfuscht, weil die Reparatur über seinen Horizont ging? Hatte er irgendeinen katastrophalen Fehler gemacht?
Scott dachte daran, auszusteigen. Er würde diese Leute selbst fragen, wenn Holley so ewig lange brauchte ...
Gleich darauf trat der Untersuchungsbeamte wieder aus der Werkstatt, ging hastig auf den Mercedes zu, kam zur Beifahrerseite und öffnete die Tür. Scott stieg aus und folgte ihm zu dem Platz, wo der Volvo abgestellt war.
Auf dem Weg dorthin war Scott nur vage bewusst, dass Holley mit ihm sprach. Wie er sagte, hatten die Mechaniker den Volvo zwar peinlich genau untersucht, aber keine Anzeichen für irgendwelche technischen Probleme gefunden, die als Unfallursache in Frage kamen. In Scotts Kopf wurde das alles von dem hohen Summton überlagert, der im Leichenzimmer der Notaufnahme eingesetzt hatte und ihn seitdem langsam verrückt machte. Während er, innerlich widerstrebend, auf den Wagen zuging, verstärkte sich der Summton noch und füllte seinen Schädel mit weißem Rauschen.
Scott biss sich auf die Lippen und zwang sich, das in Augenschein zu nehmen, was seine Familie zerstört hatte - den Beweis für die Katastrophe. Zwar kämpften seine Augen verzweifelt dagegen an, aber er überwand seinen Widerwillen, hinzusehen. Er inspizierte zunächst das Heck, wo der Wagen immer noch heil und ganz war. Für den Augenblick konnte er so tun, als sei gar nichts passiert. Als er merkte, dass die Fahrertür eingedrückt war, zögerte er kurz, während er sich sagte: Ist doch gar nicht so schlimm ... Das kann man doch durchaus überleben ...
Vorsichtig ging er weiter, blieb aber gleich darauf neben dem unversehrten Seitenspiegel stehen. Von hier aus konnte er sehen, dass die Motorhaube aufgesprungen und die Windschutzscheibe zerschellt war. Das erklärte die kleinen Schnittverletzungen, die Kath im Gesicht und am Hals hatte. Unbewusst rieb er sich über die alte Narbe am Kinn.
Als er am Armaturenbrett oberhalb des Lenkrads eine Pfütze eingetrockneten Blutes entdeckte, wandte er den Blick sofort ab. Das Atmen fiel ihm so schwer, als steche ihn ein Eispickel in die Kehle. Mit wackligen Beinen ging er weiter, zur Vorderseite des Wagens, und stolperte dabei über einen losen Asphaltbrocken. Hier war der Schaden am schlimmsten, wie deutlich zu sehen war.
Der Kühlergrill war völlig zersplittert, die Motorhaube hochgeklappt. Die Kotflügel hatten sich um mindestens sechzig Zentimeter verzogen und wie bei einer Ziehharmonika aufgerollt. Als Scott durch das gähnende Maul der Haube ins Innere spähte, sah er, dass sich der Motor aus der Aufhängung gelöst hatte und unter das Fahrgestell gerutscht war. Ihm fiel ein, wie der Verkäufer seinerzeit die besondere Sicherheit der Aufhängung gepriesen hatte (»Bei einer Frontalkollision landet der Motor garantiert nicht auf Ihrem Schoß.« ) Damals hatte er gedacht: Ist ja alles gut und schön, aber so weit wird es bei mir nie kommen. Doch nicht bei mir ... doch nicht bei uns.
Immer noch versuchte Scott nach Kräften, die ganze Sache zu leugnen. Er klammerte sich an die illusorische Hoffnung, der Wagen könne jemand anderem gehören ... Aber als er sich durch das offene Seitenfenster beugte, entdeckte er seitlich auf der Fußmatte einen von Kaths Plastikslippern (Glibberschuhe hatte sie die genannt). Und da war auch der V-förmige Riss im Polster: Er stammte von dem Profilmesser für Reifen, den Krista bei Canadian Tire erworben hatte. Mein Gott, was hatte sich Krista damals über die eigene Ungeschicklichkeit aufgeregt...
Zweifellos war das sein eigener Wagen.
Wie ein Schlafwandler kehrte Scott zur Fahrerseite zurück und zerrte an der eingedrückten Tür, deren lädierte Scharniere knirschten. Als er sich setzte, ächzte die Federung unter ihm. Der Fahrersitz rutschte um eine Kerbe zurück, ehe er einrastete. Er legte die Hände aufs Lenkrad und merkte, dass es schräg stand.
Danach schnüffelte er in der Luft herum, spähte unter das Armaturenbrett, auf den Beifahrersitz, auf den Rücksitz. Neben den Eigengerüchen des Wagens, der immer noch neu roch, war noch etwas anderes auszumachen, ein Gestank nach Moder und Feuchtigkeit. Der üble Geruch erinnerte ihn daran, wie er zu Hause einmal eine tote Maus hinter der Waschmaschine im Keller gefunden hatte.
Es stank nach Verwesung und Schimmel, vermischt mit Feuchtigkeit und Moder. Konnte das derselbe Geruch sein, der ihm in der Umgebung des Leichnams auf der Bahre aufgefallen war, in der Notaufnahme? War das der Hauch des Todes?
Gleich darauf entdeckte er den Deckel der Kühlbox, der sich durch die Wucht des Aufpralls vom Behälter gelöst hatte. Er griff nach hinten, um ihn ganz herunterzuschieben. In der Box schwamm ein angebissenes, mit Käse, Schinken, Tomaten und Salat belegtes Sandwich in einer trüben Brühe. Es roch ranzig.
Nachdem Scott den Deckel wieder zugedrückt hatte, stieg er aus dem Wagen. Sicher, man konnte den Volvo noch reparieren, aber ihm war klar, dass er ihn nie wieder fahren würde. Nach dem heutigen Tag wollte er ihn für immer aus den Augen haben. Er würde dem Automechaniker sagen, er solle den Volvo abschleppen und dorthin bringen lassen, wo man ihn entweder zum Ausschlachten verkaufen oder verschrotten konnte.
Er wandte sich wieder Holley zu, der geduldig wartend an seinem Mercedes lehnte. Doch dann fiel ihm plötzlich eine Sache ein, die ihn dazu brachte, sich durch die offene Tür zu beugen. Er musste etwas überprüfen.
Tatsächlich, der Rücksitz war mit funkelnden Glasscherben übersät.
Als Scott den Kopf hastig zurückzog, stieß er sich am Türrahmen. Wie konnte Glas auf dem Rücksitz liegen? Holley hatte gesagt, der Wagen sei außer Kontrolle geraten, herumgeschleudert und gegen eine Steinmauer geprallt. Wenn es so gewesen wäre, hätte die Windschutzscheibe - sofern sie überhaupt beschädigt worden wäre - nach außen zerschellen müssen, nicht nach innen.
Es sei denn, sie sind auf etwas geprallt, das sich bewegt hat, dachte er, während seine Finger wieder einmal die Narbe am Kinn betasteten. Es sei denn, irgendetwas ist von außen durch die Windschutzscheibe gebrochen.
Holleys Beeper meldete sich. Die von der Funkverbindung verzerrte Stimme war zwar nur schwach zu verstehen, aber Scott war sicher, dass die Nachricht durchgegeben wurde, unverzüglich das Krankenhaus anzurufen. Gleich darauf entschuldigte sich Holley und eilte in die Werkstatt.
Scotts Magen zog sich vor Angst zusammen. Ging es um Kath? Hatte sich ihr Zustand verschlechtert?
Fast krank vor böser Vorahnung stolperte er Holley hinterher und betrat die Werkstatt. Der hagere Mediziner stand in einem kleinen, schlecht beleuchteten Büro und telefonierte. Kurz darauf reichte er Scott den Hörer: »Ist für Sie.«
Mit weichen Knien machte Scott einen Schritt vorwärts. Holleys Augen verrieten ihm nichts. Während er den Hörer entgegennahm, kämpfte er gegen eine pessimistische Stimme in seinem Kopf an, die sich weigerte, Ruhe zu geben: Tut mir Leid, sagte sie, aber Kath hat wieder Krämpfe und es sieht gar nicht gut aus ... überhaupt nicht gut.
»Hallo?«
Stille. Dann ein ersticktes Schluchzen.
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