Ihm kam es so vor, als werde sein Kopf gleich platzen. »Wie ist es passiert?«, flüsterte er und hielt sich an Kristas Ringen fest.
Holley zog sich aus dem Schein der Schreibtischlampe zurück, so dass er sich fast im Schatten verlor. Er hatte den Raum bewusst dunkel gelassen, da er das Gefühl hatte, es könne ein wenig beruhigen und dazu beitragen, den Schock des plötzlichen Verlustes zu mildern. Leider war es eine Szenerie, in der er schon allzu oft hatte agieren müssen. Ehe er antwortete, zog er nochmals an der Pfeife.
»Man hat den Wagen an einer niedrigen Steinmauer etwa fünfunddreißig Kilometer von der Stadt entfernt gefunden. Ein Bauer hat den Unfall gemeldet. Was die Ursache betrifft, kann ich nur spekulieren. Offenbar waren keine weiteren Fahrzeuge in den Unfall verwickelt. Ich nehme an, Ihre Frau hat aus irgendeinem Grund die Herrschaft über den Wagen verloren. Vielleicht war sie übermüdet oder ist zu schnell gefahren. Diese Landstraßen sind schmal und haben viele Kurven, oft sind sie auch schlecht markiert. Gut möglich, dass...«
»Landstraße?«, fragte Scott und hob den Kopf. Sein Gesicht wirkte völlig ausgezehrt.
Holley tauchte zurück in den Lichtkegel über dem Schreibtisch. »Ja, eine von mehreren Nebenstraßen, die kleinere Orte mit der Interstate verbinden. Der Polizeibeamte, der den Unfall untersucht, hat berichtet, dass er über der Sonnenblende die Quittung einer Reparaturwerkstatt nahe Byfield gefunden hat. Probleme mit dem Kühler, hat er, glaube ich, gesagt. Sie war auf dem Rückweg zur Hauptverkehrsstraße, als es passiert ist.«
Das Summen in Scotts Schädel verstärkte sich. Unsichtbare Ameisen schwärmten über seinen Körper. Er sog den Atem ein, hatte dabei aber ein Gefühl, als sei ihm eine Fischgräte im Hals stecken geblieben. Plötzlich drohte ihm der Gestank von Holleys Pfeife den Magen umzudrehen. Benommen und unruhig hin und her rutschend, schloss er die Augen.
Er sah den Volvo auf der Zeichnung vor sich, der eingedrückt an einer niedrigen Steinmauer stand, während aus dem Kühler Dampf entwich. Das Wageninnere war dunkel und verriet nichts. »Sie haben eine Steinmauer erwähnt.« Für Scott waren die ' Worte so bitter wie Galle.
»Ja.« Holley zog sich wieder in den Schatten zurück, so dass seine Stimme wie die eines Geistes wirkte. »Sie sind gegen die Steinmauer geprallt, die den Friedhof von Hampton Meadow umschließt.«
Als Scott ein Kind von sechs oder sieben Jahren gewesen war, hatte ein Spielgefährte ihm irgendwann einen Basketball zugeschleudert, der ihn so heftig in den Solarplexus getroffen hatte, dass ihm die Luft aus den Lungenflügeln gepresst wurde. Sein Brustkorb, aus dem jede Luft entwich, war gleichsam erstarrt Es war ihm so vorgekommen, als habe er minutenlang nicht mehr Atem holen können. In dieser Zeitspanne hatte sich sein Bewusstsein getrübt. Hinter seinen Augenlidern waren winzige bunte Sternchen aufgeblitzt, während seine Finger zu kribbeln begannen. Genauso fühlte er sich jetzt: so atemlos, als habe ihm jemand gewaltsam alle Luft aus der Lunge gepumpt. Oder so, als habe ein unerwartet heftiger Stromschlag den Mechanismus in seinem Brustkorb außer Kraft gesetzt, der den Atemfluss regulierte, und ihm damit auch die Fähigkeit zu denken und zu abstrahieren genommen.
Auch diesmal bemerkte ihn Caroline zunächst gar nicht, als er Kaths Zimmer auf der Intensivstation betrat - und wieder hatte Scott das Gefühl, es sei nichts real. Ihm ging der Gedanke durch den Kopf, dass sich ein Geist so fühlen mochte: zwar durchaus imstande, alles zu beobachten, aber zu seiner Verzweiflung völlig unfähig, Kontakt mit der Umwelt herzustellen und sich in das Leben ringsum einzumischen.
Gleich darauf fiel ihm auf, dass Carolines Gesicht wachsbleich, schweißnass und vor Angst verzerrt war und sie mit ihren Fäusten an den Mundwinkeln zerrte. Als sie sich, während ihr Gesicht noch eine Spur bleicher wurde, umwandte und ihm zwischen heftigen Schluchzern mitteilte, Kath habe gerade eben gesprochen, spürte Scott, wie sich in seiner Brust alles verkrampfte. Im nächsten Augenblick hörte er es selbst, vernahm Kaths Stimme, die so hohl klang, als dringe sie aus großer Tiefe zu ihm herauf. Tot war das Einzige, was sie sagte, ehe sie von Krämpfen geschüttelt wurde.
Es begann langsam, fast unmerklich: Ihr leidgeprüftes Gesicht erschlaffte, der Hals blähte sich leicht auf, die Glieder begannen sachte zu zittern - und dann erfasste das Beben ihren ganzen Körper, als sei eine Sicherung in ihrem Nervensystem durchgebrannt. Während ihre Arme und Beine einen wilden Rhythmus auf die Matratze trommelten, krümmte sich ihr Rückgrat, bis es knackte.
Ehe Scott sich rührte, ehe sich seine medizinische Ausbildung schließlich durchsetzte und er das Offensichtliche diagnostizierte - einen epilepsieähnlichen, komatösen Anfall —, empfand er ganz kurz eine irrationale Abscheu vor seinem Kind. Während er zusah, wie sich Kath mit Zischlauten hin und her warf, ihre Augen aus den Höhlen traten, der Mund schäumte und Urin die Vorderseite ihres Nachthemdes befleckte, traf ihn eiskalt eine plötzliche, furchtbare Erkenntnis: Irgendetwas Pechschwarzes, Mächtiges, Altersloses sickerte in schmierigen Tropfen - Tropfen, die er fast riechen konnte -aus dem Körper seines Kindes heraus. Und dieses Etwas war das Böse.
Noch ehe Caroline aufschrie und Pflegepersonal ins Zimmer eilte, schwand das Gefühl wieder. An seine Stelle trat eine rationale Stimme in Scotts Kopf, die ihm die schlichte Wahrheit verkündete: Es ist ein Schüttelkrampf, nichts -weiter als ein Schüttelkrampf Allerdings glaubte er jetzt zu verstehen warum gottesfürchtige Menschen früherer Epochen angenommen hatten, Satan der Leibhaftige sei in den Körper jener gefahren, die sich in Krämpfen wanden. Denn außer einer vagen körperlichen Ähnlichkeit hatte das, was sich da in Zuckungen auf dem Bett wand, nichts mehr mit seiner Tochter gemein.
Scott taumelte vorwärts, um nach Kath zu greifen, aber der Arm eines Krankenpflegers hinderte ihn daran und geleitete ihn weg vom Bett, in dem Kath schreckliche Grunzlaute von sich gab, hin und her rollte und sich besudelte. Er konnte nur noch flüchtig einen letzten Blick auf ihr verzerrtes Gesicht werfen, ehe die schrecklich grellen Vorhänge in Regenbogenfarben zugezogen wurden und das Bett aus dem Blickfeld verschwand. Aber dieses Bild brannte sich ihm ins Gedächtnis.
Er wusste genau, was sie tun würden, um Kaths Anfall zum Stillstand zu bringen: Man würde ihr einen Beißschutz zwischen die Zähne zwängen; eine Schwester, vielleicht unterstützt von einem Pfleger, würde die zuckenden Glieder mit ihrem gesamten Gewicht niederdrücken; der Assistenzarzt würde ein paar Milligramm Valium in den Tropf geben, damit sich der Krampf legte. Auf diese Weise würden sie Kath so weit sedieren, dass sie für mehrere Stunden ruhig gestellt war.
Aber das war nur ein Bruchteil dessen, was Scott durch den Kopf ging, während er, Caroline an die Brust gedrückt, vor Kaths Krankenzimmer stand und hörte, wie hinter ihm die Überwachungsgeräte verrückt spielten. In seinem Inneren bäumte sich ein Dämon auf, ein tolldreistes, klumpfüßiges Etwas, das Dr. Holleys Gesicht trug. Und dieser Dämon behauptete, es sei seine eigene Frau, die er in der Notaufnahme steif und entstellt auf der Bahre hatte liegen sehen.
Er versuchte ihm einzureden, der Leichnam auf dieser Bahre sei die tote Hülle der Frau, die er vor zehn Jahren geheiratet hatte, die Hülle seiner vor ein paar Stunden noch lebendigen Ehefrau, seiner warmen Insel aus Fleisch und Blut.
Doch von solch unverschämten Behauptungen wollte Scott nichts wissen. In Gedanken fuhr er dem Dämon an die Kehle, zerrte alle schmutzigen Worte aus ihm heraus, erstickte seine Lügen in einem Schwall aus Knorpel und Blut, während er sich selbst dabei zusah ... Und dann sah er, wie sie alle drei - Krista, Kath und er selbst - unter zwei Scheinwerfern, die Regenschirmen ähnelten, Arm in Arm dastanden und lächelten. Sie posierten für das Familienporträt, das er in seinem Büro auf das Regal hinter dem Schreibtisch gestellt hatte. Es war das Foto, das ihm irgendwann vor tausend Jahren, als er noch geglaubt hatte, etwas vom Leben zu verstehen, abhanden gekommen war. Als Nächstes sprangen seine Gedanken zur Anlegestelle, zu Krista und Kath, die über ihm knieten, während sich sein Brustkorb hob und senkte und er das Wasser des Sees aus seinen Lungen spuckte. Ihm fiel ein, wie ihn trotz aller Angst schon der Gedanke, dass sie bei ihm waren und ihn liebten, getröstet hatte. Und dann kam er wieder an den Ausgangspunkt zurück, zu Dr. Holley (sie sind gegen die Steinmauer geprallt, die den Friedhof von Hampton Meadow umschließt) und zu den Zeichnungen, die all das vorhergesagt hatten.
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