Die Schwester blieb vor einer abgeteilten Nische stehen, nickte und ließ ihn dort ohne weitere Worte allein. Scott ging auf die Nische zu, verharrte jedoch am Eingang. Durch einen Spalt im fast blickdicht zugezogenen bunten Vorhang konnte er das Fußende eines Einzelbetts erkennen. Und dahinter Caroline, Kristas ältere Halbschwester, die Universitätsprofessorin.
Über das Bett gebeugt, die Hände vor der Brust gefaltet, saß sie da, ohne sich zu rühren. Scotts Anwesenheit hatte sie in ihrer Verzweiflung noch gar nicht bemerkt, so dass er einen Augenblick lang das schreckliche Gefühl hatte, gar nicht zu existieren.
Gleich darauf trat er vorsichtig näher.
Beim Anblick des Kinderarms, der schlaff auf dem Bett ruhte, blieb er erneut stehen. Ihm schoss die Erinnerung an den Vorabend durch den Kopf. Es war erst gestern gewesen, dass er in einem anderen Krankenhaus mit böser Vorahnung am Eingang eines Zimmers stehen geblieben war - mit einer Vorahnung, die ihn völlig gelähmt hatte.
Als er laut und mühsam Luft holte, drehte sich Caroline um, erkannte Scott und verzog vor Kummer das Gesicht.
»Oh, lieber Gott«, murmelte sie und stand unsicher auf. »Krista ...« Sie schlug die Hände vors Gesicht.
Scott, der immer noch wie erstarrt am Eingang stand, sah erneut zu dem Arm auf dem Bett hinüber. Auf dem Handrücken war mit Pflastern eine Kanüle befestigt ... War das Kaths Hand?
Fassungslos ließ er die Flugtasche fallen und trat noch einen Schritt näher.
Da erkannte er das silberne Armband.
Mit den Tränen kämpfend, zog Scott den Vorhang zur Seite.
Kaths Kopf wurde von einem Kissen gestützt. Starr, steif und zerbrechlich lag sie da, trotz der sommerlichen Bräune bleich. Ihre Arme, die irgendwie kindlicher als sonst wirkten, rahmten den Körper unter der Bettdecke wie schlaffe Teigrollen ein. Ein Mullverband, ähnlich dem um Scotts Bein, verhüllte das obere Drittel ihres rechten Arms. Er konnte sehen, wie sich ihr Brustkorb unter der Bettdecke hob und senkte. Abgesehen von ihrem Arm schien sie unversehrt zu sein.
Aber ihr Gesicht ... Die schreckliche Maske, zu der das Gesicht seiner kleinen Tochter verzerrt war, sollte Scott nicht so bald wieder vergessen.
Kaths Mund stand offen, erinnerte aber in keiner Weise an das lebendige, im Schlummer leicht geöffnete Oval, das er am Morgen seines Geburtstages so liebevoll betrachtet hatte.
Ihre Lippen waren wie zu einem lautlosen Schrei aufgerissen so dass die winzigen weißen Perlzahne zu sehen waren. Mitten auf ihrer sonst so glatten, glänzenden Stirn hatte sich eine steile Falte gebildet - Kaths Sorgenfalte, nur war sie jetzt tiefer und entstellte das Gesicht geradezu. An einem Nasenloch klebte blutiger Schorf; außerdem hatte sie am Hals und auf der rechten Wange zwei, drei kleine Schnittwunden, die jemand mit ganz gewöhnlichen Pflastern verarztet hatte. Ihre Augen ... Oh Gott, ihre Augen ...
Scott wurde plötzlich so schwindelig, dass er sich auf den Bettrand setzen musste. Als er mit beiden Händen Kaths Hand, in der die Kanüle steckte, umschloss, zitterte er. Nicht nur deswegen, weil diese Hand so wachsweich und kalt wirkte, sondern vor allem wegen ihrer Augen.
Sie standen offen, so weit offen, als bemühe sie sich mit aller Kraft, sie aus den Höhlen treten zu lassen. Wie die Augen einer Puppe starrten sie ins Leere.
Wie Scott verblüfft bemerkte, drückten sich in ihrem Gesicht nicht Schock oder Schmerzen aus, vielmehr wirkte es völlig künstlich, unnatürlich. So wie eine aus Elfenbein geschnitzte Maske, die äußerste Angst symbolisieren sollte. Es juckte ihn in den Fingern, die Hand auszustrecken und Kath die Augen zu schließen. Doch sofort schoss ihm ein schlimmer Gedanke durch den Kopf, der ihn bis ins Innerste traf und daran hinderte: So etwas darf man nur bei Verstorbenen tun, das darf ich nur bei Krista tun. »Kath«, flüsterte er, »Kath, ich bin's, Daddy. Bitte ...« »Scott...«
Caroline. Wie leise, wie vom Kummer niedergedrückt ihre Stimme klang. Scott wollte ihr den Kopf zuwenden, aber er gehorchte ihm nicht. Diese Augen... »Dr. Bowman?«
Scott ließ Kaths Hand los und drehte sich zu der unbekannten Stimme um. Es war der junge Arzt, der über dem Krankenblatt gebrütet hatte, als Scott auf die Station gekommen war. Er bedachte den Mann mit einem kaum merklichen Nicken, um sich gleich darauf wieder Kath zuzuwenden.
»Ich bin Dr. Cunningham«, sagte der Mann mit starkem irischen Akzent. »Ich habe Ihre kleine Tochter hier aufgenommen.«
Innnerlich murmelte Scott ein »Danke«, aber er brachte kein Wort heraus.
Cunningham ließ sich davon nicht beirren. »Abgesehen von einer bösen Schnittwunde an ihrem Arm, die wir in der Notaufnahme genäht haben, hat sie keine weiteren Verletzungen, soweit wir diagnostizieren konnten. Sofort nach ihrer Ankunft haben wir eine Computertomographie durchgeführt, aber nichts von Bedeutung finden können. Sie hat sich weder einen Schädelbasisbruch noch Hirnquetschungen zugezogen. Vielleicht hat sie eine Gehirnerschütterung, aber ich bin mir da nicht sicher. Wegen der Schnittwunde am Arm hat sie recht viel Blut verloren, allerdings nicht so viel, dass sie eine Transfusion gebraucht hat.« Er deutete auf den Monitor über dem Bett. Ein Kardiogramm, das Rhythmus und Intensität von Kaths Herzschlägen aufzeichnete, lief stumm als grüne Linie mit Kurven und Zacken über den Bildschirm. »Ihr Herzschlag ist stabil.«
(das ist alles ein Irrtum ... bin nicht wirklich hier... das passiert nicht wirklich)
Scotts Hand tastete nach der empfindlichen Schwellung an seinem Hinterkopf, die inzwischen so groß wie ein Gänseei war. Bewusst drückte er so heftig auf die Beule, dass ihn ein scharfer Schmerz durchfuhr. Das zumindest war real.
Es ist wie eine Gehirnerschütterung...
»Eindeutig so ein Fall, bei dem der Sicherheitsgurt lebensrettend war«, erklärte der Arzt. »Allerdings hat ihr letztendlich wohl der Bursche, der sie gefunden hat, das Leben gerettet. Er hat ihr die Wunde am Arm verbunden. Andernfalls hätte sie wohl so viel Blut verloren, fürchte ich, dass es kritisch geworden wäre.«
»Was ist denn eigentlich mit ihr los?«, fragte Scott, dessen Gesicht höchste Verwirrung ausdruckte, in seiner Hilflosigkeit. »Warum ist sie ... so?«
»Ich halte es für eine Art von Katatonie als Reaktion auf die Ereignisse. Das würde auch die abgeschwächten, ansonsten aber normalen neurologischen Werte und den gegenwärtigen Zustand innerer Abwesenheit erklären.« Mit offener Handfläche deutete er auf Caroline. »Caroline hat mir erzählt, dass Sie Psychiater sind. Halten Sie Katatonie für eine annehmbare Diagnose?«
Für einen winzigen Moment wurde Scott wieder zum Psychiater (gleich darauf wäre er kaum fähig gewesen, den Begriff zu definieren, schon gar nicht, eine Diagnose vorzunehmen), und in dieser Rolle musste er dem Assistenzarzt mit den wachen Augen Recht geben. Es war genau die Art von Erklärung, die er im Fall eines fremden Kindes angeboten hätte. Als Experte wusste er, dass traumatische Situationen recht oft Zustände zeitweiliger Lösung aus der Realität erzeugten, deren Grad variieren konnte. Sie reichten vom bewussten Abschalten bis zur völlig unfreiwilligen und weit reichenden Abkapselung von der Umwelt.
Aber sofort regten sich erneut Zweifel in ihm, die ihn mit Angst erfüllten und das Schlimmste befürchten ließen, so dass es ihn wieder in den Fingern juckte, Kaths Augen zu schließen. Warum mussten ihre Augen auf diese Weise offen stehen? Warum waren sie nur halb geöffnet und blinzelten? Warum wirkten die Augäpfel wie Glasmurmeln und erinnerten eher an die Requisiten eines Tierpräparators als an etwas Lebendiges? Warum schlossen sie sich nicht einfach? Dann hätte er sich vormachen können, Kath schlafe nur.
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