»Wir behalten sie zur Beobachtung da«, erklärte Cunningham. »Zumindest über Nacht. So können wir eher ausschließen, dass sie irgendwelche nicht erkannten inneren Verletzungen hat«.
Warum redet der Kerl so mit mir, als sei ich nur irgendein Kollege ? Warum lässt er uns nicht in Ruhe ?
Als habe er Scotts Gedanken gelesen, wandte sich der Assistenzarzt zur offenen Tür. »Ich bin gleich nebenan, Doktor ... wenn Sie später wieder zurück zur Notaufnahme möchten.« Mit wehendem Kittel verließ er den Raum.
Caroline griff nach Scotts Hand und drückte sie. Nach kurzem Zögern stand Scott auf und nahm Caroline in die Arme. Mit zuckenden Schultern presste sie ihr Gesicht gegen Scotts Brust und weinte. Scotts Augen blieben trocken. Er empfand nichts als eine innere Leere, da er die ganze Situation schlicht nicht fassen konnte. Als er zu schlucken versuchte, fehlte ihm jeder Speichel. Irgendetwas drückte bedenklich auf seine Magengrube: Er hatte Flugzeuge im Bauch, eine schreckliche innere Unruhe machte ihm zu schaffen.
Nachdem er wieder zu Dr. Holley, dem Untersuchungsbeamten, gestoßen war, hielt er sich nahe hinter ihm - wie ein Hund, der seinem Herrchen bei Fuß folgt In der Stille der Nacht hallten ihre Schritte auf dem Gang der Klinik wider. Scott kam das Geräusch allzu laut vor, wie von einem Verstärker verzerrt. Als sie um die Ecke zur Notaufnahme bogen und Holley den Vorhang, der die Nische abteilte, aufzog, erinnerte sich Scott an die erste und einzige Narkose, die er im Leben bekommen hatte. Ihm fiel ein, wie ihm die Geräusche - die Stimmen der Arzte und Schwestern, das Klirren und Klappern des Operationsbestecks, das Zischen kondensierter Gase - beim freien Fall ins Leere unnatürlich laut vorgekommen waren. Was er jetzt erlebte, war ähnlich: Aufgrund seines erhöhten Wahrnehmungsvermögens empfand er alles als real und gleichzeitig irreal.
Von der Decke strahlte ein Neonleuchtkörper; eine Röhre flackerte und würde bald ihren Geist aufgeben. An der Wand hing eine Manschette zum Blutdruckmessen, in einer Ecke stand ein verstellbarer Hocker und in der Raummitte eine Bahre, auf der ein in Laken gehüllter Leichnam lag. Vom Körper waren nur die wächsernen, von der Todesstarre steifen Füße zu sehen.
Scott, oder irgendeinem Teil von ihm, der sämtliches Denken und alle Empfindungen ausgeschaltet hatte, war durchaus klar, dass es Kristas Leichnam war. Wer sonst würde Nagellack in knalligem Lila auftragen? Die Umrisse ihrer schlanken Figur hätte er überall wiedererkannt, unter hundert verhüllenden Laken. Wie oft hatte er sie so gesehen, unter einer seidenen Tagesdecke, wenn ihr warmer Körper darauf gewartet hatte, dass er ...
Womöglich ist sie jetzt genau dort, schoss es ihm durch den Kopf, zu Hause im Bett, schlummert fest und friedlich an meiner Seite und ahnt gar nichts von diesem düsteren, schrecklichen Albtraum.
Als Scott sich der Bahre näherte, musste er gewaltsam gegen den Drang zur Flucht ankämpfen. Er ging wie auf Watte. Dieser Geruch ... Was ist das für ein Geruch? Holley schlug das Laken zurück und enthüllte Kristas zerschmetterten Körper. Riecht so der Tod?
Scotts Augen konzentrierten sich auf einen imaginären Punkt zwischen ihm und dem Leichnam auf der Bahre. Die immer noch viel zu lauten Geräusche um ihn herum verschmolzen nach und nach zu einem Summen tief in seinem Schädel, das so wie das Sirren von Hochspannungsleitungen bei starkem Wind klang.
Bedächtig wie ein Bergsteiger, der nach einem schlaffen Seil greift und es sorgfältig spannt, nahm er das Bild ins Visier. Es Kristallisierte sich heraus, wurde unscharf und gleich darauf wieder deutlich.
Scott Bowman sah auf den Leichnam seiner Frau herab: auf die tödlich verletzte, eingedrückte Stirn; auf das angeschwollene, gerötete Gesicht; auf die blutverschmierten Augenlider und die Nase; auf das zerschmetterte Gebiss; auf die dünnen, zurückgezogenen Lippen, die ihn an das letzte Zähnefletschen eines tödlich verwundeten Tieres am Straßenrand erinnerten. Aber was er wahrnahm, war nur irgendein Leichnam in einem Labor der Anatomie.
Genau wie damals, während des Medizinstudiums, dachte er und wusste gleichzeitig, dass der Gedanke völlig verrückt war.
Als Holley den Leichnam wieder bedecken wollte, hinderte Scott ihn daran und zog stattdessen das Laken noch weiter herunter.
Da waren ihre Brüste, seltsam flach und dort, wo das Lenkrad sie gequetscht hatte, mit einem rötlichen Bogen überzogen; dort ihr auf Melonengröße angeschwollener, angespannter, mit blauen Flecken übersäter Bauch. Scott war klar, dass sich an dieser Stelle ihr ganzes Blut gestaut haben musste. Ein Riss in der Milz. Ja, bestimmt hatte es ihre Milz erwischt.
Ihre Hände jedoch ... ihre Hände waren völlig unversehrt.
Kristas Hände.
Oh Gott, wie bleich sie waren.
Scott ließ das Laken sinken, um Kristas linke Hand in seine zu nehmen (nimm diesen Ring als Zeichen meiner ehelichen Liebe und Treue) und küsste die eiskalten Fingerknöchel.
Warum lässt sich ihr Ellbogen nicht biegen ?
Er hielt ihre Hand. Umfasste sie. Versuchte sie zu wärmen. Durch den Tränenschleier hindurch erkannte er ihre Ringe. Da war der kleine Diamantring, den er ihr in jener Nacht auf dem Bootssteg übergestreift hatte. Und daneben der schlichte Goldreif, den er ihr bei der Trauung im Büro des Friedensrichters überreicht hatte.
»Ist sie's?« Holleys Stimme war nur ein fernes Flüstern. »Ist das Ihre Frau?«
Aber nein ... Ihre Hände waren ja gar nicht unversehrt, sie waren geschwollen. Scott merkte es, als er versuchte, ihr die Ringe abzuziehen. Er konnte sie nicht über die unteren Fingerknöchel streifen. Als er daran zerrte, wurde ihm ein zischendes Geräusch bewusst: sein eigener Atem, wie er merkte, ein angestrengtes Ein- und Ausatmen zwischen zusammengepressten Zähnen. Es kam ihm so vor, als dringe die Kälte des toten Körpers seiner Frau in ihn ein, als ströme sie wie Eiswasser, das in offene Adern gepumpt wird, auf sein lebendiges Herz zu.
Als er die Ringe von den Fingern gelöst hatte, ließ er Kristas Hand fallen. Er konnte es nicht mit Sicherheit sagen, glaubte aber, ein schwaches Knacken von Sehnen gehört zu haben. Er griff nach dem Laken, um sie wieder zu bedecken, doch Dr. Holley tat es an seiner Stelle.
Wie ein angerostetes mechanisches Spielzeug, das man aufgezogen hat, stolperte Scott aus dem Raum und ging in Richtung eines Lagerraums der Notaufnahme davon. Gleich darauf holte Holley ihn ein und führte ihn hinaus.
Sie saßen in einem kleinen, düsteren Büro, Holley hinter einem mit Papierstapeln übersäten Schreibtisch, Scott, den Kopf in die Hände gestützt, ihm gegenüber. Holley zündete seine Pfeife an, inhalierte tief und stieß eine bläuliche Rauchwolke aus. Als er sich vorbeugte, wirkte sein scharfes Gesicht geradezu unheimlich, da das schwache Licht der Schreibtischlampe es von unten anstrahlte. Er sprach Scott sein wenig tröstliches Beileid aus.
»Tut mir Leid, Dr. Bowman. Ist bestimmt ein furchtbarer Schock. Ein furchtbarer Schock.«
Scott hörte den Untersuchungsbeamten gar nicht, zumindest gab er in keiner Weise zu erkennen, dass er die Worte aufgenommen hatte. Er registrierte lediglich einen Schmerz in seiner Faust, wo sich Kristas Ringe ins Fleisch gegraben hatten (er spürte dort etwas Heißes, Feuchtes: Schweiß, vielleicht auch Blut), und das ständige Summen in seinem Kopf, das ihn verrückt machte. Sein Hirn war ein Wirrwarr unterschiedlicher Gleise, die sich ohne jedes System kreuz und quer überschnitten, ein einziges Chaos bildeten. Und auf diesen Gleisen rasten die Gedanken wie Dampflokomotiven dahin und drohten ständig, aus der Spur zu geraten. In seinem Kopf passierte alles gleichzeitig: Er stand an der Bahre in der Notaufnahme, sah Kaths angsterfülltes Gesicht und hatte die Zeichnungen und den unheimlichen Alten vor Augen, der, tausend Meilen von ihm entfernt, festgebunden im Rottstuhl saß.
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