Nachts träumte ich schlecht. Ich sah meine Bekannten, wie sie sich grämten über mein Malheur und bedauerten, dass sie mir nicht hatten helfen können. Gegen Morgen träumte ich von meiner Mutter. Sie war traurig und zärtlich zugleich - so wie ich sie im wirklichen Leben seit Langem nicht mehr erlebt hatte. »Romännchen, Liebes!«, flüsterte sie, ein Taschentuch mit dem Wappen derer von Storkwinkel vor ihre Augen gepresst, »meine Seele hing über deinem Bettchen und hütete deinen Schlaf! Aber dann hast du mich mit Sekundenkleber angeklebt, da konnte ich nichts mehr für dich tun!«
Ich hätte nicht gewusst, was antworten, aber die Zunge sprang mir bei, die diesen Träumen genauso aufmerksam folgte wie ich (und sowieso zwischen Traum und Wirklichkeit wenig Unterschiede machte):
»Tut mir leid, aber Sie sind gar nicht seine Mama«, sagte sie mit meiner Stimme, »seine Mama hätte ihm vorgehalten, dass er den Kleber schnüffelt.«
Danach wurde ich wach.
Ich lag in einem riesigen Bett unter reich besticktem braungoldenem Himmel. Gardinen von gleichem Braungold ließen kaum Licht herein; die Einrichtung des Zimmers war, was man heutzutage gothic nennt. Auf einem Schemel neben dem Bett stand ein Telefonapparat mit schwarzem Ebonitgummigehäuse, den fünfziger Jahren des vorigen Jahrhunderts nachempfunden.
Ich erhob mich und schlurfte ins Bad.
Als ich mich im Spiegel sah, fuhr ich erschrocken zurück. Um die Augen waren schwarzlila Blutergüsse, die das halbe Gesicht einnahmen, so wie man es von Gehirnerschütterungen kennt. Sie waren gestern noch nicht da gewesen und sahen scheußlich aus. Aber alles Übrige ging schon wieder. Das Blut hatte ich noch am Vorabend abgewaschen; am Hals unterhalb des Jochbeins war nur ein kleines schwarz verkrustetes Löchlein geblieben wie von einem durch die Haut gedrungenen Nagel. Es blutete nicht, tat auch nicht weh -man musste sich wundern, dass so eine kleine Wunde einen derart glühenden Schmerz verursacht haben konnte.
Mein Mund sah aus wie früher - nur dass der leicht angeschwollene Gaumen einen dicken orangenen Belag trug. Die Gegend, wo er sich ausbreitete, fühlte sich etwas taub an. In den frischen Zahnlücken verspürte ich ein dumpfes Ziehen - und o Wunder, in den schwarzen Kratern waren schon die zuckerweißen Spitzen der neuen Zähne zu sehen -sie wuchsen in unglaublichem Tempo.
Die Kugel in meinem Inneren war noch da, doch sie beunruhigte mich nicht mehr. Über Nacht hatte ich mich schon beinahe daran gewöhnt. Eine ergebene Entrücktheit hatte sich meiner bemächtigt - so als wäre das alles nicht mir, sondern einem anderen passiert, den ich aus einer vierten Dimension beobachtete. Die daraus resultierende Unverbindlichkeit erschien angenehm, versprach eine zuvor nicht gekannte Freiheit... aber eigentlich war ich noch zu schwach, um Selbstanalyse zu betreiben.
Nach dem Duschen nahm ich eine Quartierbesichtigung vor. Die Wohnung war frappierend in den Ausmaßen und ihrem düsteren Luxus. Außer dem Schlaf- und dem Archivzimmer gab es einen Kinoraum mit einer Sammlung von Masken an den Wänden (venezianische Masken, afrikanische, chinesische und solche, die ich nicht zuordnen konnte) sowie eine Art Wohnzimmer mit Kamin und Sitzgruppe und einem altmodischen Radioempfänger im Mahagonigehäuse an prominentester Stelle.
Dann gab es noch einen Raum, dessen Bestimmung mir nicht aufging - kein richtiges Zimmer, eher eine größere Abstellkammer, deren Fußboden mit dicken, weichen Kissen ausgelegt war. Die Wände mit schwarzem Samt tapeziert, darauf Sonne, Mond und Sterne mit menschlichen Gesichtern; sie schauten streng und abweisend. In der Mitte der Kammer hing an einer Kette eine Vorrichtung von der Decke, die aussah wie ein riesiger silberner Steigbügel - eine gebogene Metallstange mit Querstrebe. Aus der Wand ragte ein metallener Knauf; wenn man daran drehte, fuhr der Bügel über den Kissen hoch oder runter. Ich hatte keine Vorstellung, wozu dieses Gerät gut sein konnte - wenn man nicht einen großen Papagei daraufsetzen wollte, der der Einsamkeit frönte ... Ferner waren über die Wände des Raumes kleine weiße Kästchen verteilt, die Rauchmelder hätten sein können.
Das Archivzimmer, in dem Brahma sich die Kugel gegeben hatte, kannte ich bereits. Dadurch, dass ich schon einige Zeit darin verbracht hatte, sah ich mich zu einer eingehenderen Untersuchung berechtigt.
Ganz offenbar war dies das Arbeitszimmer des vormaligen Hausherrn gewesen - obwohl sich schwerlich sagen ließ, worin seine Arbeit bestanden haben mochte. Ich zog aufs Geratewohl ein paar Schübe in der Archivwand auf und fand darin Plastikgestelle mit reihenweise Reagenzgläschen vor, alle schwarz verstöpselt. In jedem befanden sich zwei, drei Milliliter einer klaren Flüssigkeit.
Eine Ahnung, was das sein konnte, lag nicht fern. Mitra hatte mir die Kostprobe Windows Chrrr aus einem ganz ähnlichen Gefäß kredenzt. Augenscheinlich handelte es sich hier um eine Vampirbibliothek. Die Gläschen waren mit Nummern und Buchstaben versehen. Auch an den Vorderseiten der Kästen gab es aus mehreren Buchstaben und Ziffern bestehende Signaturen.
Die beiden Aktgemälde an der Wand waren spezieller Art. Auf dem einen, in einem Sessel sitzend, ein nacktes Mädchen von vielleicht zwölf Jahren. Unvorteilhafterweise hatte sie Nabokovs Glatzkopf auf ihren zarten Schultern sitzen, die Nahtstelle war von einem Halstuch mit streng bürgerlichem Tüpfelmuster verdeckt. Lolita war der Titel des Bildes.
Das andere zeigte ein ungefähr gleiches Mädchen, nur mit sehr viel hellerer Haut und fehlenden Brustwarzen. Hier sah Nabokov schon ganz alt und hinfällig aus, und das Tarnhalstuch über der Naht hatte ein bizarres, poppiges Muster, mit Sternschnuppen, Kickerhähnen und geographischen Symbolen. Dieses Bild hieß Ada.
Gewisse anatomische Details der kindlichen Körper waren ausgeführt, doch man schaute nicht gern genauer hin, zumal der durchdringend-verächtliche Blick der beiden Nabokovs den Betrachter das Fürchten lehrte. Diesen Effekt hatte der unbekannte Künstler meisterlich hinbekommen.
Plötzlich meinte ich eine leise Zugluft im Nacken zu spüren.
»Vladimir Nabokov als Wille und Vorstellung«, sagte eine sonore Bassstimme in meinem Rücken.
Ich fuhr erschrocken herum. Hinter mir in einem Meter Entfernung stand ein kleiner dicker Mann im schwarzen Jackett über dunklem Rollkragenpullover. Dem Anschein nach in den Fünfzigern; buschige Brauen, Hakennase, hohe Stirn. Seine Augen waren von einer verspiegelten Sonnenbrille verdeckt.
»Verstehst du, was der Künstler uns damit sagen wollte?«, fragte er.
Ich schüttelte stumm den Kopf.
»Nabokovs Romane Lolita und Ada sind Varianten einer Dreierkiste der Marke Wladimir-sei-bei-uns. Darum geht es.«
Mein Blick wanderte von Lolita zu Ada, auf deren milchweißer Haut ich eine stattliche Anzahl Fliegenpunkte bemerkte.
»Lolita«, wollte ich wissen, »kommt das eigentlich von LOL?«
»Wie bitte?«
»Laughed out loud«, erläuterte ich. »Eine Floskel aus dem Netz. Wir sagen auch Lautes Online-Lachen dazu oder einfach *lach*. Demzufolge wäre Lolita ein Mädchen, das viel und gerne lacht.«
»Ach ja«, seufzte der Fremde, »andere Zeiten, andere Kulturen. Manchmal fühlt man sich schon wie ein Museumsstück ... Hast du Nabokov gelesen?«
»Klar«, log ich.
»Und wie fandest du es?«
»Nachtmahr einer grauen Stute«, sagte ich lässig.
Das war eine Redewendung meines alten Großvaters gewesen, wenn ihm einer Blödsinn erzählte. Mit derlei Poesie setzt man sich als Rezensent nicht gleich in die Nesseln, soviel wusste ich.
»Oho, das trifft den Nagel auf den Kopf!«, freute sich der Fremde. »Nicht umsonst heißt die Stute auf Englisch mare. Das erwähnt unser verehrter Autor sogar an einer Stelle. Aber wieso grau? Ach so! Verstehe, verstehe ... Schlimmer als alle bösen Träume ist die Schlaflosigkeit! Wie sagt doch der Meister: Insomnia, your stare is dull and ashen ... Aschgrau, ließe sich sagen ...«
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