Ich setzte mich auf das Sofa, wo vor Kurzem noch die Leiche des Mannes mit der Maske gelegen hatte. Es hätte mich eigentlich gruseln müssen, auf diesem Platz zu sitzen, doch die schwere schwarze Kugel in mir scherte das nicht.
»Ich habe kein Verlustgefühl«, sagte ich. »Ich habe nicht einmal das Gefühl, ich selber zu sein.«
»Korrekt«, sagte Mitra. »Du bist ja auch ein anderer jetzt. Was dir wie ein Kern vorkommt, ist in Wahrheit die Zunge. Bis vor Kurzem hat sie in Brahma gelebt, jetzt lebt sie in dir.«
»Das hat Brahma auch gesagt, entsinne ich mich. Die Zunge würde auf mich übergehen.«
»Aber glaub nur nicht, dass es Brahmas Zunge war. Brahma hat der Zunge seinen Körper geliehen, nicht umgekehrt.«
»Wessen Zunge ist es dann?«
»Es ist nicht so, dass sie jemandem gehörte. Sie gehört sich selbst. Die Persönlichkeit eines Vampirs teilt sich in Kopf und Zunge. Der Kopf ist der menschliche Faktor. Die soziale Person mit allem Sack und Pack und Gerümpel. Die Zunge ist das zweite Persönlichkeitszentrum, das wichtigere. Sie macht dich zum Vampir.«
»Und was ist das - die Zunge?«
»Ein lebendiges Geschöpf der anderen, höheren Art. Die Zunge ist unsterblich und geht von einem Vampir auf den anderen über - sie sattelt um, sollte man wohl sagen, wie ein Reiter. Weil sie nun einmal nur in Symbiose mit einem Menschen existieren kann. Da, schau her!«
Mitra deutete auf das Bild mit dem reitenden Napoleon. Der sah einem Pinguin ähnlich, und wenn man wollte, konnte man das Ganze für eine Zirkusnummer halten: ein Pinguin zu Pferde, während die Böller krachen.
»Körperlich kann ich die Zunge gar nicht spüren«, sagte ich. »Ich spüre sie anders.«
»Das ist ganz in Ordnung so. Der Trick ist der, dass das Bewusstsein der Zunge mit dem des Menschen, in dem sie sich ansiedelt, verschmilzt. Ich habe den Vampir mit einem Reiter verglichen, aber ein Kentaur wäre das passendere Bild. Manche behaupten, die Zunge unterwerfe sich den menschlichen Verstand. Richtiger wäre es zu sagen, dass sie den menschlichen Verstand auf ihr Niveau hebt.«
»Sagtest du: hebt?«, fragte ich. »Mein Gefühl ist eher, in eine Grube gefallen zu sein. Wenn ich mich in die Höhe gehoben fühlen soll, wieso diese ... Dunkelheit?«
»Hm ... Dunkel kann es unter der Erde genauso wie im hohen Himmel sein. Aber ich kenne das Gefühl. Das ist jetzt eine schwierige Phase für dich und die Zunge. Eine zweite Geburt, ließe sich sagen. Für dich im übertragenen Sinne, für die Zunge ganz buchstäblich. Es ist für sie eine neue Inkarnation, denn das ganze menschliche Gedächtnis, alle Erfahrung, die der Vampir zuvor gesammelt hatte, ist passe, wenn die Zunge einen neuen Körper sattelt. Du bist ein unbeschriebenes Blatt Papier. Ein neugeborener Vampir, der lernen muss. Lernen, lernen und nochmals lernen.«
»Was denn lernen?«
»Du wirst dich in kürzester Zeit zu einer kulturell hochstehenden, distinguierten Persönlichkeit entwickeln müssen. Die in ihren physischen Möglichkeiten und intellektuellen Horizonten das Gros der Menschheit bei Weitem übertrifft.«
»Und wie soll das gehen, in so kurzer Zeit?«
»Wir verfügen über eine spezielle Methodik, die schnell und effektiv ist. Doch das Wichtigste bekommst du von der Zunge beigebracht. Du wirst sie bald nicht mehr als Fremdkörper empfinden. Ihr werdet zu einem Ganzen verschmelzen.«
»Soll das heißen, dass die Zunge einen Teil des vorhandenen Gehirns wegätzt?«
»Nein. Sie ersetzt die Mandeln und tritt in Kontakt mit dem präfrontalen Cortex. Praktisch kommt ein zweites Gehirn zu deinem hinzu.«
»Und ich bleibe dabei ich selbst?«
»In welchem Sinne?«
»Na ja, womöglich bin das dann gar nicht mehr ich?«
»Jedenfalls wirst du morgen ein anderer sein, als du heute bist. Und übermorgen wieder ein ganz anderer. Wenn sich schon was ändern muss, dann sollte man doch wenigstens etwas davon haben, oder nicht?«
Ich erhob mich vom Sofa und lief ein paar Schritte durch das Zimmer. Jeder Schritt kostete Kraft, und das störte beim Denken. Mir schien, Mitra wollte mich ein bisschen hinters Licht führen mit dem, was er sagte. Vielleicht machte er sich auch nur lustig über mich. Aber in dem Zustand mochte ich nicht mit ihm streiten.
»Was soll ich jetzt machen?«, fragte ich. »Nach Hause gehen?«
Mitra schüttelte den Kopf.
»Auf gar keinen Fall. Du wirst die nächste Zeit hier in dieser Wohnung wohnen. Die persönliche Habe des Verstorbenen wurde bereits entfernt. Alles Übrige erbst du. Hier kannst du arbeiten.«
»Was denn arbeiten?«
»Es werden Lehrer kommen und dich unterrichten. Gewöhne dich an deine neue Beschaffenheit. Und an den neuen Namen.«
»Ach? Wie heiße ich denn jetzt?«
Mitra griff nach meiner Schulter, drehte mich mit dem Gesicht zum Spiegelschrank. Ich sah furchtbar aus. Mitra zeigte auf meine Stirn. Dort gab es bröselige braune Schriftzeichen zu sehen. Ich erinnerte mich, wie Brahma mir vor seinem Tod mit Blut etwas an die Stirn gemalt hatte.
»A-M-A-T ...« buchstabierte ich. »Oder nein, A-M-A-R ...«
»Rama«, korrigierte Mitra. »Vampire tragen nach altem Brauch die Namen von Göttern. Aber kein Gott ist dem anderen gleich. Über den Sinn deines Namens denk selbst nach. Er ist die Lampe, die dir auf deinem Wege leuchten soll.«
Er schwieg - wohl in Erwartung einer Nachfrage. Aber ich hatte keine.
»Das mit der Lampe sagt man nur so«, erläuterte Mitra. »Auch aus alter Sitte. Genaugenommen könntest du dich auch ohne Lampe nicht verlaufen. Vampire haben nur den einen Weg. Und der ist nur in einer Richtung begehbar, ob mit oder ohne Lampe.«
Er lachte.
»Jetzt muss ich los«, sagte er. »Wir sehen uns zum Großen Sündenfall wieder.«
»Was soll das denn sein?«, fragte ich, in der Annahme, dass Mitra schon wieder scherzte.
»Eine Art Prüfung. Für die Vampirberechtigung!«
»Mit Prüfungen sieht es bei mir mau aus«, sagte ich. »Da rausche ich immer durch.«
»Versuche nicht einzustehen für das, was das System verbockt hat. Du hast einen sehr guten Aufsatz geschrieben, frisch und aufrichtig. Er lässt sogar auf eine gewisse literarische Begabung schließen. Auf dem Fuji waren andere Schnecken gefragt, daran lags.«
»Hast du mich etwa gebissen?«
Er nickte und fuhr mit der Hand in die Jackentasche, holte ein schmales Glasröhrchen hervor: ungefähr Zigarettenlänge, beidseitig mit Plastikstöpseln verschlossen. Ein paar Tropfen Blut waren darin.
»Das ist deine Personalakte. Da werden noch ein paar andere Einblick nehmen. Unsere Vorgesetzten!«
Dabei schaute er vielsagend zur Decke.
»Jetzt noch zu ein paar lebenstechnischen Dingen. Im Sekretär liegt Geld, das könntest du brauchen. Essen wird vom Restaurant unten gebracht. Die Haushaltshilfe kommt zweimal die Woche putzen. Wenn etwas fehlt, dann kauf es.«
»Soll ich mit der Visage auf die Straße gehen?«, fragte ich, auf mein Spiegelbild deutend.
»Das vergeht schnell. Ich kümmere mich darum, dass dir das Nötigste schon mal gebracht wird. Schuhe, Klamotten und so.«
»Willst du die Größe wissen?«
»Weiß ich doch!«, sagte er und schnalzte mit der Zunge.
Als Kind war ich an Wundern interessiert. Wahrscheinlich hätte ich nichts dagegen gehabt, ein fliegender tibetischer Yogi zu sein wie Milarepa oder ein Zauberlehrling wie Carlos Castaneda und Harry Potter. Auch mit etwas einfacheren Missionen hätte ich mich einverstanden erklärt: Kosmosheld werden, einen neuen Planeten entdecken oder einen von diesen großen Romanen verfassen, die das menschliche Herz erschüttern und die Kritiker zum Zähneknirschen veranlassen und zum Dreckschleudern vom Grunde ihrer Gruben.
Aber Vampir? Blutsauger? ...
Читать дальше