Immer noch stampfte die Stute mit den Hufen. Nandalee war jetzt bis auf drei Schritt an sie heran.
Ein zweiter und dritter Pegasus landeten hinter der Stute und kamen mit bedrohlich geweiteten Schwingen näher.
»Ich bin verwundet«, sagte Nandalee. »Und ich bin auf der Flucht. Drachen jagen mich.« Ihr war bewusst, dass die Stute sie nicht verstand, aber sie wusste nicht, was sie sonst sagen sollte. Sie musste die Pegasi friedlich stimmen. Die Himmelsrösser würden über ihr Leben oder ihren Tod entscheiden.
»Bitte, ich muss meine Jungen retten.« Zoll um Zoll arbeitete sie sich an die Stute heran. Zwei Mal scheute sie zurück, dann gestattete sie es, dass Nandalee ihre Nüstern berührte.
Die beiden anderen Pegasi waren nur noch einen Schritt entfernt. Beide hatten die Ohren angelegt. Eine falsche Bewegung, und sie würden sie mit trommelnden Hufen angreifen.
Doch die Stute schien Vertrauen zu ihr gefasst zu haben. Sie ließ es zu, dass Nandalee ihre Stirn streichelte. Und nun wagte sie etwas, das sie oft mit Sternauge getan hatte. Sie presste ihre Stirn an die der Stute und versuchte, sie an all ihren Gefühlen teilhaben zu lassen. An ihrem Zorn und ihrer Angst wegen der Himmelsschlangen. An ihrer Trauer um Sternauge und an der Sorge um ihre Kinder.
Auch sie spürte etwas. Trauer. Dieses Gefühl teilten sie beide. Als sie in die großen schwarzen Augen der Stute aufblickte, war alle Scheu daraus verschwunden. Sie wandte den Kopf zur Seite, ging zwei Schritte und blickte dann zu Nandalee zurück, als wollte sie sie auffordern, ihr zu folgen. Auch die beiden anderen Pegasi wirkten nicht mehr so nervös wie vorhin noch.
Nandalee erklomm eine flache Düne. Auf der Rückseite sah sie einen dunklen Körper, halb im Flugsand versunken. Ein Rappe.
Die Stute hielt neben ihm an. Sanft stieß sie mit den Nüstern gegen den leblosen Körper, als hoffte sie, sie könne ihn so aufwecken.
Die Elfe stieg zu dem toten Hengst herab. Sie streichelte ihn. Sein Kopf war schon halb im Sand versunken. »Es tut mir leid«, sagte sie leise und dachte an Sternauge. Nicht einmal ein Tag war vergangen, seit sie von ihm Abschied genommen hatte.
Nach einiger Zeit stand sie auf und ging zu den anderen zurück. Die drei Pegasi blieben bei ihrem Toten.
»Und, hast du das Geheimnis herausgefunden?«, bestürmte Emerelle sie.
»Ja.«
»Darf ich es auch sehen? Bitte!«
»Manche Geheimnisse sind traurig, wir jagen ihnen nach, doch wenn wir sie finden, stecken wir uns an ihrer Traurigkeit an. Dieses ist so ein Geheimnis. Willst du es wirklich wissen?«
Emerelle zögerte kurz, dann nickte sie.
Nandalee nahm sie bei der Hand und führte sie zum Kamm der Düne. Dort verharrte sie kurz, bis sie sich sicher war, dass die Stute erlaubte, dass sie noch einmal zurückkam.
»Ein toter Pegasus?«, sagte Emerelle leise und klang weniger erschüttert als enttäuscht.
»Ich glaube, es war ihr Gefährte oder ihr Bruder«, sagte Nandalee, und als sie den Eindruck hatte, dass die Stute es gestattete, dass sie sich noch einmal näherten, ging sie mit Emerelle hinab.
Ihre Tochter kniete sich neben den Kopf, so wie sie es eben getan hatte. Sie schob Sand zur Seite. »Er sieht aus wie Sternauge«, sagte sie leise, ohne in ihrer Arbeit innezuhalten.
Jetzt erst sah Nandalee die Blesse, die eben noch unter dem Sand verborgen gewesen war. Sie ähnelte der von Sternauge nicht nur. Sie war genau gleich!
Plötzlich gab Emerelle einen halb erstickten Laut von sich und sprang auf. Sofort scheuten die Pegasi und wichen zurück. Nandalee zog ihre Tochter zu sich in die Arme. Und dann sah sie, was Emerelle erschreckt hatte: Ein tiefer, sandverklebter Schnitt klaffte im Hals des Pegasus.
»Wer tut so etwas?«, schluchzte sie. »Das ist so böse!«
»Ich weiß es nicht.« Nandalee drückte ihre Tochter an sich und strich ihr über das Haar, bis sie sich beruhigte.
Aus den Augenwinkeln sah sie Nodon und Eleborn, die zum Kamm der Düne heraufgestiegen waren. Die beiden hatten alles gesehen.
»Kannst du ihm den Sand aus der Mähne streichen, oder graut es dir zu sehr vor ihm? Ich glaube, die Stute würde es mögen, wenn du das tust.«
Emerelle nickte, doch Tränen standen ihr in den Augen.
Als sie sich wieder neben dem toten Hengst niederließ, stieg Nandalee die Düne hinauf.
»Er sieht aus wie Sternauge«, sagte Nodon kalt, und es war überdeutlich, dass all seine Zweifel an ihrer Geschichte wieder erwacht waren.
»Es ist nicht Sternauge! Benutze deinen Verstand. Warum hätte ich ihn hier töten sollen? Wie wäre ich von hier zum Albenstern im Jadegarten gelangt?«
»Du kannst sehr schnell sein, wenn du willst.«
Er klang noch distanzierter. Würde er sie zum Kampf herausfordern? Hier, vor den Kindern?
»Sternauge starb in dem Tal, in dem der Gelbe Turm steht«, erklärte sie beschwörend. »Glaubst du wirklich, ich würde meinen Pegasus ermorden? Welchen Grund hätte ich dazu?«
Die letzte Frage schien ihn zum Nachdenken zu bringen. Jedenfalls nickte er zögerlich.
»Ich werde versuchen, die Pegasi dazu zu bringen, uns zu helfen. Vielleicht tragen sie uns zu einem Albenstern.«
»Besser, unsere Wege trennen sich schon hier, und sie tragen uns zu drei verschiedenen Albensternen«, warf Nodon ein. »Das wird es den Himmelsschlangen schwerer machen, uns zu verfolgen.«
Das war ein vernünftiger Einwand, doch Nandalee spürte, dass es dem Schwertmeister vor allem darum ging, fort von ihr zu kommen. Er konnte ihre Nähe nicht länger ertragen.
Sie griff nach dem Lederbeutel an ihrem Gürtel, nahm eines der Stoffröllchen heraus und überreichte es Eleborn. »Ich habe das Traumeis gefunden. Ich werde dir nie genug für all das danken können, was du für die Kinder und auch für mich getan hast.« Sie stockte. »Vielleicht wird dir das Traumeis helfen, wieder der zu sein, der du einst warst.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich werde mir mehr als nur ein Bein wachsen lassen. Ich werde mich von Grund auf verändern. Nach allem, was geschehen ist, bedauere ich, jemals ein Drachenelf gewesen zu sein.«
Nandalee bemerkte den verächtlichen Blick Nodons. Er würde immer ein Drachenelf bleiben, ganz gleich wie viel Zeit verging. Sie war sich auch sicher, dass er sich keinen neuen Meister suchen würde. Seine Treue gehörte allein Nachtatem. Sie gab auch ihm eines der Stoffröllchen. »Wann immer du an mir zweifelst, nimm dies in die Hand. Ich war im Gelben Turm, und ich habe Nachtatem niemals verraten.«
Es war unmöglich, in seinen schwarzen Augen zu lesen, was er dachte. Nandalee hoffte, dass sie ihn niemals zum Feind haben würde. Er würde sie finden, wenn er zu der Überzeugung gelangte, dass sie die Mörderin seines Herrn war. Und wenn es dazu kam, würde es keine Gelegenheit zu reden mehr geben.
»Ich weiß, wohin ich gehen werde«, durchbrach Eleborn das beklemmende Schweigen zwischen ihnen. »Ich werde …«
»Lass uns nicht voneinander wissen!«, unterbrach ihn Nodon schroff. »Die Himmelsschlangen werden uns nachstellen. Sollten sie einen von uns finden, ist es besser, wenn wir nicht verraten können, wo die anderen sind.«
Er hatte recht, und doch fand es Nandalee niederschmetternd, sich so zu trennen.
Sie ging zu den Pegasi. Noch einmal stand sie Stirn an Stirn mit der Stute. Und schließlich gestatteten die beiden Hengste Eleborn und Nodon aufzusteigen. Ohne ein weiteres Wort des Abschieds flogen sie in den Nachthimmel davon.
Nandalee hob Meliander auf, der noch immer schlafend im Sand ruhte. Mit ihm in den Armen ging sie zu Emerelle.
Ihre Tochter hatte die Mähne des toten Hengstes mit den Fingern ausgekämmt und den tiefen Schnitt im Hals wieder unter Sand verschwinden lassen. Die Stute trat hinter sie und stupste sie sanft mit der Schnauze in den Nacken, als wollte sie sich bedanken.
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