Artax setzte sich auf. »Was hast du getan?«
»Das einzig Richtige. Übrigens waren Ashot und ich darin ausnahmsweise einmal einer Meinung. Er war es, der dir hinterrücks den Schlag auf den Kopf gegeben hat. Mich wollte er das nicht machen lassen. Er hatte wohl Angst, dass ich dir den Schädel einschlage.«
»Wie konntest du …«
»Es war Blut auf den Monden! Das war ein überaus schlechtes Omen. Ashot war derselben Meinung. Er fand auch, dass die Erdbeben ein schlechtes Omen waren. Da war ich mir nicht ganz so sicher …«
»Weil die Monde rot waren und die Erde gebebt hat, dachtest du, du entführst mich. Mich, den Unsterblichen? Und das am Abend vor der Schlacht!«
Shaya sah ihn beleidigt an. »So leicht habe ich es mir natürlich nicht gemacht. Ich war bei Volodi und habe ihm davon erzählt. Er hat mir gezeigt, was Quetzalli gemacht hat, wenn sie den Schleier der Zukunft zerreißen wollte. Wir haben gemeinsam einen schwarzen Hahn geschlachtet.«
Artax stöhnte. »Lass mich raten – die Leber war voller schwarzer Flecke und Würmer.«
Shaya schüttelte den Kopf. »Nein, sie war völlig in Ordnung, aber nachdem ich mit Volodi ein wenig getrunken hatte, waren wir übereinstimmend der Meinung, dass nur Zapote auf diese Weise die Zukunft bestimmen sollten und Hühnerlebern für alle anderen keine Aussagekraft haben. Er fand es übrigens eine gute Idee, dich vom Schlachtfeld fernzuhalten. Er meinte, du seist zu sehr in den Tod verliebt.«
Das sagte der Richtige, dachte Artax, sprach es aber nicht aus. »Ich habe für immer mein Gesicht verloren«, sagte er erschüttert.
»Du meinst diese stählerne Maske unter dem Löwenhelm? Ashot hat deine Rüstung angelegt. Der Unsterbliche Aaron hat also auf dem Kommandodeck gestanden und seine Flotte befehligt, wie es die Pflicht verlangt. Niemand wird bemerkt haben, dass du fehlst.«
»Ich bin mehr als eine Rüstung«, sagte er gekränkt.
Shaya ergriff seine Hände. »Endlich sind wir einer Meinung. Du bist unendlich viel mehr. Du bist der Mann, der seinem Königreich all seine Träume geopfert hat. Der selbstlose Herrscher, den alle lieben und der doch an seiner Selbstlosigkeit schon fast zerbrochen ist. Glaubst du, ich hätte nicht gesehen, wie du dir Tag für Tag neue Bürden auferlegt hast? Und weißt du, worin Ashot und ich noch einer Meinung waren?«
Sie ließ ihm keine Zeit, darauf zu antworten.
»Wir beide waren überzeugt, dass es dir egal wäre, ob du in einer Schlacht stirbst oder nicht. Wer so denkt, der kommt nicht mehr zurück.«
Artax fühlte sich ertappt. Manchmal hatte er wirklich gedacht, der Tod sei ein Segen, so unendlich müde machte ihn die Herrschaft.
Shaya wies in weit ausholender Geste über das Land. »Ich hoffe, das hier entspricht deinen Vorstellungen. Du hast mir so oft von der Schönheit von Distelblüten vorgeschwärmt. Also bitte, Distelblüten bis zum Horizont.«
Er mochte das Lila der Blüten. Wenn der Wind über ein Distelfeld blies und es auf und nieder wogte, sah es aus wie ein lila Ozean.
»Gefällt es dir auch?«
Shaya sah ihn überrascht an. »Ob mir ein Meer von Disteln gefällt? Dieses Land ist keinen Hundefurz wert. Hier kann man keine Pferde weiden. Nicht einmal eine Ziege, die auch nur ein bisschen Hirn in ihrem Schädel trägt, würde sich in so ein Distelfeld wagen. Das hier ist dein Traum, nicht meiner.«
»Dann ist es nichts wert. Ich habe mir immer vorgestellt, dass wir zusammen ein Gehöft …«
»Ja, ja. Du hast mir öfter als einmal erzählt, wie wunderbar es ist, mit nackten Füßen in warmem Mist zu stehen. Noch so ein Traum, den wir nicht teilen …« Sie lächelte, wie nur sie lächeln konnte. Dann deutete sie nach Osten. »Ein paar Meilen in diese Richtung soll es einen Bach geben und an seinen Ufern ganz passables Weideland.«
»Das ganz bestimmt schon jemandem gehört …«
Shaya blickte zu den beiden Packtieren, die auf der staubigen Straße standen. »Wir haben ein paar Beutel Gold dabei. Ich bin zuversichtlich, dass am Ende alle zufrieden sein werden. Und sollte jemand uneinsichtig sein …« Sie legte die Hand auf die Dornaxt an ihrem Gürtel. »Du weißt ja, dass ich sehr überzeugend sein kann.«
Er lachte und dachte bei sich, dass er die Verhandlungen führen würde.
»Der Löwenhäuptige wird kommen und uns holen.« Und wahrscheinlich bestrafen …
Sie wirkte verärgert. »Du könntest aufhören, dich zu waschen, deinen Bart nicht mehr ölen und eine schmutzige Tunika tragen. Dann siehst du aus wie tausend andere Bauern auch.«
»Ich glaube, ich habe mich in dich verliebt, weil du so unglaublich charmant sein kannst.«
Ihr Ärger war verflogen, aber ihre Augen wirkten traurig. »Ich weiß, dass der Löwenhäuptige uns finden wird, wenn er es will. Wahrscheinlich haben wir nur diesen einen Abend für unseren Traum. Deshalb ist es so wichtig, dass wir die Zeit gut nutzen und nicht hier herumstehen und reden. Ich möchte mit dir am Ufer des Flusses liegen, dem Wasser lauschen, zu viel Wein trinken und dich lieben, bis die Sonne wieder aufgeht.«
Er ergriff ihre Hand. So viele Jahre hatte er versucht, anderen ein gutes Leben zu schenken. Seine eigenen Träume hatte er dabei längst aufgegeben. »Gut, dass es dich gibt«, sagte er leise. »Nutzen wir diese eine Nacht.«
Viele Jahrhunderte später …
Da waren sie wieder, die flackernden Schatten. Dem Ebermann war bewusst, dass die Menschenkinder stundenlang reglos vor der Eiswand knien mussten, damit er sie überhaupt wahrnahm. Sie beteten zu ihm! Wie sie ihn wohl nannten?
Sie hatten ein lächerlich schlecht gearbeitetes Holzbild dort draußen am Eingang der Höhle aufgestellt. Es war mit Hunderten Nägeln gespickt. Was für erbärmliche Wichte das sein mussten, wenn ihnen schon ein Nagel als ein angemessenes Geschenk für einen Gott erschien!
Der Devanthar wusste nicht, wie viele Jahrhunderte vergangen waren, seit seine Geschwister ihn eingesperrt hatten. Geduldig hatte er den Zauber studiert, der seinen Kerker versiegelte. Er hatte versucht, ihn zu zerstören, und gelernt, dass dieses verfluchte magische Gespinst die außerordentliche Fähigkeit besaß, Schaden, der ihm zugefügt wurde, durch die Kraft der Albenpfade zu heilen.
Doch mit der Zeit ließ die Macht des Zaubers nach. Oder vielleicht war es auch seine Macht, die wuchs. Er wusste, er würde entkommen. Er war nicht darauf angewiesen, dass Išta ihm die Gnade erwies, ihn zu befreien. Seine Brüder und Schwestern schienen den Gelben Turm aufgegeben zu haben. Seit langer Zeit spürte er ihre Präsenz nicht mehr in der Welt. Es war folgerichtig, wenn sie Nangog zum neuen Mittelpunkt ihrer Herrschaft gemacht hatten, oder vielleicht sogar Albenmark. Daia war die Welt, aus der sie gekommen waren. Sie war sicher. In den anderen Welten hingegen mussten sie ihre Herrschaft erst noch festigen.
Der Ebermann stand vor der Scheibe aus trübem Eis und betrachtete einen Betenden, der dort kauerte. Ein paar Herzschläge nur, dann war er verschwunden. Wieder blickte er auf das Holzbild. Für was hielten ihn diese Barbaren? Einen bärtigen Kerl?
Er schnaubte. Nicht mehr lange, und er würde ausbrechen. Immer wieder hatte er sich ausgemalt, was er als Erstes tun würde. Vermutlich klares Quellwasser trinken. Er vermisste es, etwas zu schmecken. Bei dem Gedanken an Blut und warmes Fleisch wurde ihm ganz flau. Er benötigte kein Essen, um zu leben. Aber es war ein Genuss, etwas zu schmecken. Seine Hauer in warmes Fleisch zu schlagen. Es zu schlucken.
Er würde kein Wort über den Verrat von Išta, Langarm und dem Gefiederten verlieren. Ob Anatu noch lebte? Egal! Auch das war nicht seine Sorge. Er würde sich anpassen. Er würde allein durch die Wildnis streifen, so wie früher. Und er würde Elfen jagen. Lyvianne war der Schlüssel zu seinem Unglück gewesen. Er hätte sie töten sollen, als er entdeckte, dass sie nach der zweiten Hälfte des Herzens Nangogs suchte. Wie hatte er glauben können, dass Elfen und Devanthar ein Ziel verfolgen könnten!
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