Unendlich erleichtert presste Quetzalli ihn an sich. »Alles ist gut, mein Schatz. Alles ist gut!«
Sie dachte an ihre Mutter, die immer kühl und abweisend zu ihr gewesen war. Sie konnte sich nicht erinnern, ein einziges Mal von ihr in den Arm genommen und getröstet worden zu sein. Nicht einmal nach jener Nacht, in der sie sich eine Dornenranke eng um die Zunge gewickelt hatte, um den Göttern ihren Schmerz zu schenken. Sie hatte keine Träne vergossen. Nur drei von fast hundert Mädchen hatten das geschafft. Damit hatte sie bewiesen, dass sie eines Tages würdig war, die Weihen einer Hohepriesterin zu empfangen. Als sie in das Haus ihrer Mutter zurückkehrte, hatte sich ihre Zunge entzündet. Sie hatte tagelang im Fieber geglüht und wäre beinahe an ihrer Zunge erstickt. Der Heiler, der ihrer Familie diente, hatte ihr die Zunge herausschneiden wollen. Und ihre Mutter hatte nichts getan, außer ihm zuzuhören und zu nicken. Sie hatte nicht zu ihr gehalten, ihrer eigenen Tochter. Ihre Mutter war immer der Überzeugung gewesen, dass man Liebe niemals zeigen durfte, weil die Götter einem stets das nahmen, was man am meisten liebte.
Es war ihr Vater gewesen, der sie vor dem Messer des Heilers gerettet hatte. Doch nicht, weil er ein freundlicher Mann gewesen wäre. Ohne Zunge hätte sie nicht zu einer bedeutenden Priesterin aufsteigen können.
»Das ist Unsinn, nicht wahr, Wanya? Die Götter stehlen nicht, was man liebt.«
Er lag ganz ruhig in ihrem Arm, strampelte nicht, versuchte nicht, sich aus ihrem Griff zu winden, wie er es sonst immer tat. Er war müde.
Quetzalli fröstelte es. Etwas von der Kälte, die mit der Dunkelheit gekommen war, schien im rußgeschwärzten Mauerwerk zurückgeblieben zu sein. Sie stand auf und ging auf das Tunnelende zu, das sie zum Palasthof führen würde. Quetzalli musste sich zwingen, nicht zu laufen. Unglück haftete an diesen dunklen Wänden. Sie schwor sich, nie wieder diesen Tunnel zu betreten.
Ihr Weg führte sie auch an Dascha vorbei. Die alte Dienerin lag mit dem Gesicht nach unten am Boden. Ein Hieb hatte sie in den Rücken getroffen und mehrere Rippen gespalten. Ein Teil ihrer Lunge hatte sich aus der Wunde gedrückt und hing wie Lappen über ihrem schmuddeligen Kleid. Quetzalli legte Wanya eine Hand über die Augen. Er war viel zu klein, um zu verstehen, und doch, dachte sie, war es besser, wenn er solche Dinge erst gar nicht sah. Tote Krieger – ja. Aber niedergemetzelte Frauen? Ganz sicher nicht. Er würde ein Kämpfer werden wie sein Vater. Aber kein Mörder! Volodi war ein guter Mann, ehrenhaft wie kaum ein anderer, den sie kannte.
Quetzallis Mund war staubtrocken, als sie aus dem Tunnel trat. Immer lauter war nun das Klagen der Verwundeten zu hören. Sie betete leise zur Gefiederten Schlange, dass der Tod nicht Volodis Weg gekreuzt hatte. Als sie um die Ecke der hoch aufgemauerten Terrasse trat, auf der die Festhalle stand, bot sich ihr ein Bild des Schreckens. Überall auf dem weiten Hof lagen Tote und Verwundete. Es waren mindestens dreißig. Wie hatten die Daimonen so wüten können? Es roch nach Blut. Ein Geruch, der ihr als Priesterin der Zapote nur zu vertraut war.
Sie war zwölf gewesen, als sie zum ersten Mal danebenstand, als einem Mann das Herz aus der Brust geschnitten wurde. Vierzehn, als sie es zum ersten Mal selbst tat.
Inmitten der Toten lag der Kadaver eines riesigen Vogels. Überall steckten Pfeile im Lehmboden. So dicht wie auf einem Schlachtfeld, auf dem zwei Heere gegeneinander angetreten waren. Krieger knieten zwischen den Toten. Heiler waren gerufen worden. Sie entdeckte Yuri, den Leibarzt, der einst dem Unsterblichen Iwar gedient hatte. Er kniete bei zwei Männern, die etwas abseits der anderen Toten lagen. Einer von ihnen war der Fremde. Ein Schwerthieb hatte sein Gesicht zerteilt. Den zweiten verdeckte Yuri, der abwehrend die Hände hob, als er sie kommen sah.
»Bringt das Kind nicht hierher! Dies ist ein Ort voller Geister in dieser Nacht. Haltet ihn bei Euch! Geht fort! Schnell!«
Der weißhaarige Heiler mochte sie nicht. Er wollte allein an Volodis Seite sein, um die Bedeutung zurückzugewinnen, die er mit Iwars Tod verloren hatte.
»Lass mich zu meinem Mann«, sagte sie mit schneidend kalter Stimme.
Yuri trat zur Seite. »Wie ich hörte, wolltet Ihr dem Unsterblichen Volodi einst das Herz herausschneiden, Hexe. Mir scheint, nun ist Euch ein anderer zuvorgekommen.«
Der Herrscher von Drus lag hingestreckt auf dem Boden. Sein Wams war von Blut durchtränkt. Ein breiter, tiefer Schnitt lief quer über seine Brust. »Unser Herrscher kämpft noch«, erklärte Yuri feierlich. »Ihr alle wisst, dass er ein starker Mann ist. Doch ich glaube nicht, dass er den Morgen noch erleben wird.«
Bidayn verlor fast den Griff um den Weidenring, als Sonnenfänger über den linken Flügel abkippte, mit den äußersten Spitzen seiner Schwungfedern die Brüstung eines Flachdachs streifte, um dann mit kräftigen Flügelschlägen wieder an Höhe zu gewinnen. Er flog dem Gewühl von Tentakeln über ihnen entgegen!
»Das sind keine Regenwürmer, die man aufpicken könnte«, rief Bidayn, obwohl sie wusste, dass der große Adler sie nicht verstand. Er spürte ihre Gefühle. Sie mochten einander, doch Worte spielten keine Rolle in dem Bund, den sie geschlossen hatten.
Sonnenfänger ging tatsächlich zum Angriff über. Verdammtes Spatzenhirn, dachte Bidayn verzweifelt. Er wich einem Fanghaken aus, der ihnen entgegenschwang, sein Schnabel hackte nach weichem Fleisch. Blut sprühte Bidayn ins Gesicht. Die übrigen Adler hielten auf den weiten Platz mit der Goldenen Pforte zu. Jenem Albenstern, der Tag und Nacht geöffnet blieb, um die endlosen Karawanen passieren zu lassen, die nach Nangog zogen, um, mit den Schätzen der neuen Welt beladen, nach Daia zurückzukehren.
Versuchte Sonnenfänger, den Wolkensammler von den anderen Adlern des Schwarms abzulenken? Opferte er sich, damit seine Brüder und Schwestern entkamen? Bidayn fluchte leise. Wunderbare Idee! So würde sie gemeinsam mit Sonnenfänger verrecken.
Mit tollkühnen Manövern kurvte der Adler zwischen den Fangarmen, dann legte er plötzlich die Flügel an und ließ sich wie ein Stein in die Tiefe stürzen. Aus dem Augenwinkel sah die Elfe, wie Federn in die Luft stoben. Lemuels Adler war getroffen, hielt sich aber noch in der Luft.
Es war unglaublich, wie wendig dieser veränderte Wolkensammler trotz seiner Größe war. Gewiss waren die Adler schneller als er, aber dieses riesige Ungeheuer hatte erraten, wohin sie wollten, und war über den Karawanenplatz geflogen. Er versperrte ihnen den Fluchtweg mit einem Wald sich windender Fangarme.
Von unten feuerten inzwischen Tausende Stimmen den Wolkensammler an. Als ihr Adler den Sturzflug beendete und wieder nach oben stieg, sah Bidayn in dem Gedränge aus Lasttieren und Menschenkindern etwas Silbernes. Einer der neuen, der geflügelten Löwen war dort unten. Eigentlich sollte er das Tor offen halten, aber jetzt legte er den Kopf in den Nacken und sah zu ihnen hinauf. Jeden Augenblick würde er sich in den Kampf einmischen. Sie musste ihre Schar hier herausbringen! Der Goldene musste Nachricht von dem Traumeis erhalten!
Bidayn flüsterte ein Wort der Macht. Sie griff nach dem magischen Netz, und sie wusste, welchen Preis sie dafür zahlen würde. Sonnenfänger stieß einen wilden Schrei aus. Wieder schnappte er nach einem Tentakel. Bidayn versuchte, ihren rebellierenden Magen zu beherrschen. Sie zog die Beine an, und ein peitschender Tentakelhieb glitt dicht unter ihren Sohlen vorbei.
Nicht die Konzentration verlieren! Sie wob den Zauber, der ihr vertraut war wie kein zweiter. Augenblicklich spürte sie, wie das magische Netz auf sie reagierte. Es erinnerte sich an sie! Genau hier, am Platz vor der Goldenen Pforte, hatte sie es schon einmal getan. Alles um sie herum wurde langsamer. Die Flügel Sonnenfängers schwangen nur noch träge auf und ab. Die Fangarme des Wolkensammlers bewegten sich so träge wie Seegras in sanfter Dünung. Bidayn veränderte den Zauber, weitete ihn aus. Ließ ihn erst auf Sonnenfänger überspringen und von dort zu Lemuel und dessen Adler. Dann weiter zu Kyra und Asfahal. Zuletzt zu Valarielle.
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