»Bist du sicher…?« fragte Raistlin zögernd.
Kirsig lachte herzlich. »Oh, keine Bange. Der ist fähig, mehr als fähig.«
»Wie – wie sollen wir entkommen?« stammelte Flint. Er wollte ihre Aufmerksamkeit eigentlich lieber nicht auf sich ziehen, doch die Frage lastete auf seiner Seele. Kirsig drehte sich um und blickte ihn verzückt an. Als Flint zurückstarrte, streckte sie die Hand aus und streichelte seinen Bart.
»Ja, entkommen!« sagte sie aufgeregt. »Das ist das Problem, und wir werden es lösen. Wir werden diesen dummen Ogern eine Lektion erteilen.« Sie senkte die Stimme und winkte Raistlin und Tanis heran. »Aber es gibt nur zwei Wege aus Ogerstadt. Entweder ihr seid tot – das ist der sicherste Weg – oder – « Sie zögerte.
Die schwätzt mehr als Tolpan, dachte Flint.
»Ja?« drängte Tanis.
»Der andere«, flüsterte Kirsig, »ist noch schlimmer.«Sie mußten sich schnell beratschlagen, denn die Zeit drängte, und Kirsig würde vermißt werden, wenn sie ihrer Arbeit allzulang fern blieb.
Raistlin erzählte Kirsig von ihrer Aufgabe. Der junge Magier erklärte, daß sein Bruder, Sturm und Tolpan vermißt waren, und erzählte ihr sogar von dem Portal, durch das sie hierher gelangt waren. Kirsig machte große Augen, als er die Minotaurischen Inseln erwähnte. Sie war noch nie über das Blutmeer gefahren, das sie nur aus vielen Sagen kannte, und war noch nie woanders gewesen als im Ogerland. Aber vor kurzem waren, wie sie Raistlin berichtete, ein paar Stiermenschen in Ogerstadt gewesen und hatten mit dem Häuptling verhandelt.
»Worüber?« wollte Raistlin wissen, der sichtlich neugierig war.
»Was weiß ich?« meinte Kirsig. »Ich bin nicht der Hüter aller Geheimnisse hier. Ich kann euch bloß sagen, daß diese Minotauren furchtbar stinken und ihre Zimmer in einem abscheulichen Zustand hinterlassen. Dreckige Kühe!« Sie spuckte aus. Der Speichel landete neben Tanis’ Füßen. Der Halbelf machte diplomatisch einen Schritt nach hinten.
Wenn sie sich nicht durch das Haupttor nach draußen kämpfen wollten, gab es Kirsig zufolge nur einen einzigen Ausweg aus Ogerstadt: den Abwasserkanal. Wenn sie Glück hatten, sagte Kirsig, würden ihr Auftauchen und ihre Flucht geheim bleiben. Keiner würde auch nur vermuten, daß Fremde in der Burg gewesen waren.
Tanis verzog das Gesicht beim Gedanken an den Abwasserkanal.
»Weiter«, drängte Raistlin, der spürte, daß Kirsig noch mehr zu sagen hatte.
»Ich kippe alles Wischwasser und den Abfall und Schlimmeres da rein, wenn ihr wißt, was ich meine. Ich weiß, wo der Tunnel herauskommt, unten an der Bucht, wo die Wachen euch nicht sehen können. Das einzige ist – « wieder zögerte sie.
»Was?« forderte Tanis.
»Im Kanal spukt es. Geister und Ghule. Sagt jeder. Es ist gefährlich, dort hindurch zu gehen. Ihr könntet umkommen.«
»Das Risiko nehmen wir in Kauf«, sagte Raistlin schnell.
»Dann bleibt hier im Zimmer und verhaltet euch still«, sagte Kirsig, die ihrerseits jeden von ihnen streng anblickte. »Ich bin gleich nach Mitternacht zurück. Bis dahin sind die meisten innerhalb der Burg sternhagelvoll oder schon im Land der Träume. Hier seid ihr sicher, aber steckt eure Nasen nicht aus der Tür.«
Sie warf einen letzten, wohlwollenden Blick auf Flint, während sie langsam und zurückhaltend ihre Finger von seinem graugefleckten Bart nahm. »So ein hübscher Zwerg«, sagte Kirsig, ehe sie ihren Eimer und den Mop nahm. Sie machte die Tür einen Spaltbreit auf, spähte nach draußen und schlüpfte dann ohne weitere Worte hinaus.
Nachdem sich die Tür hinter ihr geschlossen hatte, wartete Tanis noch etwas, bis er Raistlin zuflüsterte: »Glaubst du, wir können ihr trauen?«
Der junge Magier ließ sich auf einen Stuhl plumpsen. Er nickte.
Tanis schien zufrieden.
»Aber – «, begann Flint zaghaft.
Die beiden Gefährten warfen ihm einen amüsierten Blick zu. »Ganz sicher würde sie ihren besonderen, neuen Freund nicht verraten«, sagte Tanis.
Flint runzelte die Stirn, lief knallrot an und sagte nichts mehr. Als es dunkel wurde, hörten die drei Gefährten laute Geräusche von den unteren Stockwerken, rauhe Stimmen, die sich lachend und rufend erhoben, einen Schwall Flüche, der in Tumult überging und dann in einem Ogergesang mündete:
»Eisenhaken, Eispickel, Feuerpeitsche, hah!
Reißt auf das Herz, ob Freund, ob Feind,
Blut in den Augen – ja!
Oger allesamt!«
So und mit ähnlichen Sprechgesängen ging es weiter bis lange nach Mondenaufgang, und Tanis befürchtete schon, daß der Trubel die ganze Nacht andauern könnte.
Schließlich hallten laute Tritte von schweren Füßen durch die Gänge, gefolgt von Schubsen und Streiten. Waffen und schwere Ausrüstung fielen auf den Boden, und endlich herrschte weitgehend Ruhe, die von tiefem Schnarchen unterbrochen wurde. Vom einzigen Fenster des Raums aus beobachtete Tanis den Wachwechsel auf den Zinnen.
Schließlich hörten die drei leise Schritte. Die Tür ging auf, und Kirsig trat herein.
»Folgt mir«, grunzte die Halbogerin und winkte sie heran.
Immer im Schatten folgten sie ihr drei Treppen hinunter. Überall hörten sie das Stöhnen und Schnaufen schlafender Oger. Durch halb offene Türen konnten sie Füße sehen, die gegen die Bettpfosten gestemmt waren, und hin und wieder das Glitzern von Metall an Wandhaken. Aber keiner hielt sie auf. Sicherheitshalber hatten Flint und Tanis die Hand an die Waffen gelegt.
Im Erdgeschoß mußten die drei Gefährten einen weiten Saal mit hoher Decke durchqueren, wo die Reste des abendlichen Festmahls – umgeworfene Kelche, abgenagte Knochen und ähnliches – auf dem riesigen Eichentisch und dem Steinboden herumlagen. Die Wände waren mit detailgetreuen Wandteppichen von bluttriefenden Schlachten behängt. Das Feuer war erloschen. Nur noch glühende Kohlen glimmten vor sich hin.
Ein Thron auf einem Podest beherrschte ein Ende des Raumes, und auf diesem Thron hing ein riesiger, muskulöser, gelbbrauner Oger, der die Füße über eine Armlehne streckte. Er war sinnlos betrunken und schlief. Seine fleckige Haut war von Beulen und Blutergüssen übersät. Er schnarchte mit offener Schnauze. Ein dickes Silberband, das mit grünen Edelsteinen verziert war, lag als einziges Zeichen seines Status fest um seine Stirn.
»Arrast, der Häuptling«, flüsterte Kirsig, die auf ihn deutete. »Keine Bange. Der hat soviel Grog getrunken, daß er bis morgen früh nichts mehr mitkriegt.«
Als ob er gehört hätte, daß es um ihn ging, regte sich Arrast und drehte sich auf die Seite. Er hob kurz den Kopf, stieß ein rauhes Bellen aus und schnarchte weiter.
Da Flint nach Kirsigs vorherigen Worten noch etwas verunsichert war, eilte er rasch an dem schlafenden Häuptling von Ogerstadt vorbei.
Am anderen Ende des riesigen Raums bedeckte ein viereckiges Gitter eine tiefe, dunkle Grube, die in den Boden eingelassen war. Obwohl Flint hinunterspähte, konnte er nichts sehen. Von tief unten drangen schmatzende und kratzende Geräusche nach oben. Der faulige Gestank, der heraufwehte, reichte aus, den Zwerg kurz aus dem Gleichgewicht zu bringen.
»Spielegrube«, sagte Kirsig, die ihn am Ellenbogen festhielt.
»Schwarze Weiden«, sagte Raistlin ernst.
Tanis nickte.
»Ja«, stimmte Flint zu, obwohl er nicht die leiseste Ahnung hatte, was »schwarze Weiden« waren, und als er an der dunklen Grube vorbeilief, sagte er sich, daß er kein Bedürfnis hatte, es herauszufinden.
Durch einen kleinen Torbogen kamen sie zu einer schmalen Steintreppe, die sie auf eine tiefere Ebene führte. Das war der Kerker, wie man an dem feuchten Rottegestank merkte, der Mischung aus Knochen und zerbrochenen Waffen und den Strohhaufen, die von den getrockneten Blutstreifen verfärbt waren. An den Wänden hingen flackernde Fackeln, die mattes Licht spendeten.
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