Flint stieß vorsichtig eine Tür auf, hinter der ein großer, schmuckloser Raum lag. Der Raum enthielt ein einfaches Bett, einen Tisch, eine Truhe und einen Schrank. In dem Bett hatte offenbar kürzlich jemand geschlafen – wahrscheinlich letzte Nacht –, doch das Zimmer war leer. Nach der Stille zu urteilen, die überall vorherrschte, war das mit den anderen Räumen genauso.
»Ich vermute«, sagte Raistlin, der sie zurück in den Gang führte, »daß das hier Gästezimmer sind. Es dürfte später Nachmittag sein. Wenn es zur Zeit Besucher gibt, sind die anderweitig beschäftigt; wir sind also sicher, bis sie zurückkommen.«
»Großartig«, murrte Flint. »Wir müssen also nur auf den Abend warten und uns dann den Oger aussuchen, dessen Bett wir teilen wollen.«
»Oder uns hier rauskämpfen«, sagte Tanis vorschnell.
Im gleichen Moment hörten alle drei ein Schlurfen am anderen Ende des Gangs. Bevor einer von ihnen reagieren konnte, sahen sie aus einem der Zimmer jemanden kommen, der etwas auf den Boden stellte. Sie purzelten fast übereinander, als sie sich in das leere Gästezimmer zurückdrängten.
»Pst!« sagte Tanis zu Flint, als sie gegeneinander liefen. Raistlin zog hinter ihnen die Tür zu.
»Was nun?« flüsterte Flint.
Raistlin schlich zum Fenster, achtete aber darauf, nicht gesehen zu werden. Im Westen sah er trockenes Land, das von welkem Gras und absterbenden Blumen gesprenkelt war. Weit hinten erhoben sich steile Hügel, die von dunklem Wald bedeckt waren.
Die Burg hing an der Seite eines zerklüfteten, felsigen Abhangs. Ogerwachen patroullierten die inneren und äußeren Mauern.
»Diese Gestalt am Ende des Gangs war bloß eine Putzfrau«, sagte Tanis reumütig zu Flint. Er massierte seinen Fuß, auf den Flint in der Eile versehentlich getreten war.
»Woher weißt du das?« fauchte Flint. Er setzte sich auf das Bett.
Tanis deutete auf seine Augen und sagte mit der Andeutung eines Lächeln: »Elfenaugen.«
Flint stieß einen Schwall von Verwünschungen aus.
Bevor er damit fertig war, ging die Tür weit auf. Eine kleine gedrungene Gestalt stand auf der Schwelle. Von hinten wurde sie von hellem Tageslicht beschienen. Augenblicklich warf sich Tanis auf die Gestalt, nur um von einem Mopgriff fest gegen das Kinn gestoßen zu werden. Flint, der einen Schritt hinter dem Halbelfen war, schlang seine Arme um den Kopf des Eindringlings. Er wurde in die Hand gebissen und zurückgeschleudert. Raistlin ging vom Fenster weg und trat in die Mitte des Raums.
Die Gestalt kam ins Zimmer. Sie schwenkte einen Mop und sah sie finster an.
Sowohl Tanis als auch Flint wichen noch ein paar Schritte weiter zurück. Flint sank aufs Bett. Weil Raistlin plötzlich das Absurde dieser Situation aufging, begann er zu kichern. Der Eindringling war wirklich eine Putzfrau – mit dicken Muskelsträngen, einer schweineähnlichen Schnauze und langen, strähnigen, braunen Haaren. Doch ihre Stimme klang scharf und klug.
»Jetzt sagt mir, wer ihr seid und was ihr hier macht, und zwar schnell. Wenn eure Geschichte mich nicht überzeugt, ziert ihr morgen früh schon einen Ogerspeer!«
Tanis tastete nach seinem Schwert. Flint rieb sich die Hand. Beide waren entsetzt, einer Halbogerin zu begegnen, einer gemischtrassigen Frau, wie sie keiner von ihnen auf all ihren langen Reisen je gesehen hatte. Obwohl sie zweifellos gefährlich aussah, funkelte in den Augen der Frau dennoch ein fröhliches Licht. Nach zivilisiertem Maßstab war sie häßlich und tierhaft, doch sie trug einen ordentlichen Lederrock und wirkte einigermaßen gepflegt.
Als Tanis über die Schulter zu Raistlin schaute, konnte die Halbogerin einen besseren Blick auf Flint werfen. Sie quietschte vor Freude und stieß den erstaunten Halbelfen zur Seite.
Die Halbogerin brachte ihr Gesicht direkt vor Flints. Er lehnte sich verblüfft und – um die Wahrheit zu sagen – etwas eingeschüchtert zurück. Ihr Atem traf ihn wie ein heißer Wind. »Hach! Ein Zwerg! Ich hab’ noch nie einen gesehen – lebend, meine ich! Klar, ich sehe jede Menge Zwergenskelette und Knochen, aber das ist ja nicht dasselbe wie ein lebender.«
Die Halbogerin griff mit ihren breiten Händen nach vorn und berührte den langen Vollbart des Zwergs. »Hach, was für ein hübscher Bart!«
Flint machte ein finsteres Gesicht. Hilfesuchend verdrehten sich seine Augen in Richtung Tanis und Raistlin.
Die Halbogerin fuhr herum und sah die beiden anderen Gefährten an, worauf sie einen dicken Finger an ihre fleischigen Lippen legte. »Der Häuptling sollte nichts davon erfahren. Er würde den Zwerg auf der Stelle töten, und dann müßte ich dieses Zimmer zehnmal oder zwanzigmal saubermachen, bis der Gestank raus ist.« Höflich nickte sie Flint zu.
»Entschuldige bitte, wenn ich das sage. Und dann würde er sein Herz zum Frühstück verspeisen.«
Sie dachte einen Augenblick nach. »Wahrscheinlich würde er die Innereien den anderen geben, aber das Herz wäre für ihn, ganz sicher. Der Kopf würde natürlich an einer weithin sichtbaren Stelle auf einem Speer stecken.« Sie schüttelte den Kopf und schnalzte mit der Zunge.
Flint erbleichte.
»So ein hübscher Zwerg.« Wieder blickte sie ihn augenklimpernd an. »Ich weiß nicht, aber ich finde ihn einfach hinreißend.« Ihr Gesicht verdüsterte sich. Verschwörerisch sah sie Tanis und Raistlin an. »Aber wir müssen aufpassen, daß er nicht gesehen wird, sonst ist er auf jeden Fall tot.«
Flint machte den Mund auf, aber Raistlin trat vor und legte der Putzfrau den Arm um die Schultern. »Dann kannst du ihm – uns – helfen, aus Ogerstadt zu entkommen?«
Die Halbogerin kniff die Augen zusammen. »Ich glaube, ich könnte… und ich glaube, ich würde. Ich mag diese Oger nämlich nicht besonders, wißt ihr. Ich bin ihre Sklavin, seit sie damals meinen Vater umgebracht haben, einen armen Bauern. Mich haben sie nur verschont, damit ich für sie putzen kann. Und eins will ich euch sagen, für so einen Haufen Rüpel sind diese Oger erstaunlich eigen, was die Sauberkeit angeht. Ich gehöre natürlich nicht zu ihnen. Ich bin nur zur Hälfte Oger. Mein Name ist Kirsig. Wie heißt ihr?«
Raistlin stellte alle der Reihe nach vor, obwohl sich Kirsig hauptsächlich für Flint zu interessieren schien. »Flint Feuerschmied«, sann sie mit leuchtenden Augen.
Es war eines der wenigen Male in seinem Leben, daß Flint sich hilflos vorkam. Verzweifelt sah er zu Tanis, aber der Halbelf zuckte nur mit den Schultern.
»Und könntest du uns helfen, ein Boot zu finden, das uns über das Blutmeer bringt?« fragte Raistlin.
Wie ein kleines Mädchen klatschte Kirsig in die Hände. »Das Blutmeer! Hach, ihr seid aber eine wagemutige Truppe, ich seh’ schon! Warum wollt ihr denn über das Blutmeer? Das ist eine furchtbar riskante Reise. Ihr müßt am Mahlstrom entlang und wirklich seefest sein. Ihr braucht einen kühnen, erfahrenen Kapitän, und der wird ganz sicher einiges dafür verlangen.«
»Wir zahlen soviel, wie wir können«, antwortete Tanis vorsichtig. »Kennst du so einen Kapitän?«
»Wenn ich ihn finde«, erwiderte Kirsig bescheiden. Ihr Gesicht war voller Geheimnistuerei. »Aber«, sie hielt inne, »ich kann die Burg erst nach Mitternacht verlassen, wenn ich meine Arbeit gemacht habe. Ihr könnt hierbleiben, aber ihr müßt vorsichtig sein. Der Häuptling, seine Leute, die Legion, die die Burg bewacht… jeder von ihnen kann hier aufkreuzen. Sie kommen leicht durcheinander, wißt ihr«, sagte sie mit verschwörerischem Zwinkern, »und wandern manchmal durch die Burg, weil sie ihre Waffen oder ihre Schuhe suchen.
Heute nacht empfängt der Häuptling einige Gesandte aus dem Viperntal. Ihr dürft keinen Mucks machen, bis jeder in der Burg schläft. Wenn ihr entkommt«, sie berichtigte sich, »sobald ihr entkommt, müßt ihr euch verstecken, bis ich den Kapitän gefunden und alles ausgemacht habe.«
Читать дальше