Tanis half Raistlin auf die Beine. Arm in Arm taumelten sie an den Strand der Bucht hinauf, bis sie eine geschützte Stelle abseits der Kanalmündung erreichten. Flint war nirgends zu sehen. Nach einigen Minuten begann Tanis, sich zu sorgen, was aus Flint geworden war. Er machte sich auf den Rückweg und fand den alten Zwerg triefnaß, schlammbespritzt, wütend und mit wutverzerrtem Gesicht auf einem Stein sitzend vor.
»Was ist denn?« fragte Tanis erschöpft.
»Mein Bein«, keuchte Flint. »Ich kann es nicht belasten. Ich glaube, es ist gebrochen.«
Tanis untersuchte ihn sofort. Richtig, das rechte Bein war gebrochen. Es war bereits angeschwollen und wurde langsam blaurot.
Tanis warf sich den Zwerg, der sich ununterbrochen beklagte, über die Schultern und trug ihn aus der Bucht, um ihn sanft neben Raistlin zu setzen.
Obwohl der junge Magier sichtlich erschöpft war – sein Gesicht war verschmiert und von kleinen Schnitten übersät –, fand er in der Nähe einen abgebrochenen Ast, riß Streifen von seiner Robe ab und gab sich große Mühe, eine feste Schiene an Flints Bein anzulegen.
»Mein übliches Pech«, murrte Flint, der wimmerte, als Raistlin die Bandage festband.
»Wir hätten dich dem Lacedon überlassen sollen«, sagte der junge Magier mit ungewöhnlichem, trockenen Humor.
»Dem was?« fragte der Zwerg.
»Dem Ghul da drin«, sagte Tanis. Dreckbeschmiert lag er im Sand, doch er war viel zu erschöpft, um sich um sein Äußeres zu kümmern. »Kirsig hatte recht mit den Untoten im Tunnel.«
»Natürlich hätten sie dich tot lieber gemocht. Sie leben von Leichen, weißt du«, sagte Raistlin trocken, der mit der Schiene fertig war. Ohne Umschweife rollte er sich an einem Felsen zusammen und war im Nu eingeschlafen.
Flint grummelte etwas Unverständliches.
Ihre kleine Bucht wurde von einer Felsnase abgeschirmt. Dahinter erstreckte sich bis zum Horizont das dunkle, feindselige Blutmeer. Das Licht beider Monde, Lunitaris und Solinaris, betupfte das schwarze Wasser mit Silberflecken. Sie konnten nichts anderes hören als das ewige Rauschen und Grummeln der Brandung.
Stundenlang warteten Tanis und Flint zitternd auf Kirsig. Irgendwann fand Tanis, daß Flint lange nichts gesagt hatte. Als er hinschaute, erkannte er, daß der Zwerg, der mit seinen Kräften am Ende war, ebenfalls eingeschlafen war. Er lehnte an einem Felsen und streckte das gebrochene Bein lang vor sich aus. Seufzend richtete sich Tanis auf die Nachtwache ein.Etwa eine Stunde vor Morgendämmerung kam ein kleines Boot in Sicht, das sich seinen Weg durch die Bucht suchte. Auf einer der vorderen Bänke saß Kirsig, doch die Ruder betätigte jemand anderes. Tanis weckte Flint und Raistlin.
Als das Boot bei ihnen landete, sprang Kirsig heraus. Der Ruderer, ein großer, gut proportionierter, schwarzhäutiger Mann mit spiegelglatter Glatze, folgte ihr. Er trug nichts außer einem dicken Lendenschurz und hochgeschnürten Sandalen. Eine schöne Knochenkette hing um seinen muskulösen Hals, und ein kleines juwelenbesetztes Messer steckte in einer Schlaufe seines Gürtels.
»Tut mir leid, daß es so lange gedauert hat«, erklärte Kirsig hastig. »Ich mußte in die Stadt und Nugeter holen. Dann mußte ich meine Sachen packen…« Plötzlich hielt sie inne und riß die Augen auf. »Hach, was ist denn mit dem hübschen Zwerg passiert?«
Sie stürzte zu Flint, der an dem Felsen sitzen geblieben war. Dort kniete sie sich hin und untersuchte sorgfältig sein Bein. Der Zwerg runzelte die Stirn.
Der, den sie Nugeter genannt hatte, stand mit den Händen in den Hüften da und grinste Tanis und Raistlin an, während er sie prüfend ansah.
»Kirsig…«, setzte Tanis an.
»Was soll das heißen, du mußtest deine Sachen packen?« fragte Raistlin Kirsig direkt.
Die Halbogerin drehte sich zu Raistlin um. »Na«, raunzte sie, »ich mußte eine Ogerwache töten. Ich kann doch wohl kaum hierbleiben, oder? Also komme ich mit!«
»Aber – aber – «, stammelte Raistlin.
»Eine Frau auf so einer Reise?« zweifelte Tanis.
»Wenn ihr mich fragt – «, setzte Flint an.
Nugeter brachte sie zum Schweigen, indem er in schallendes Gelächter ausbrach.
Nach langer Pause fragte Tanis Kirsig: »Was findet er denn so komisch?«
»Was ich komisch finde, Halbelf«, sagte Nugeter, der die drei verächtlich ansah, »ist, daß über die Hälfte meiner Mannschaft aus Frauen besteht. Und die erledigen die Arbeit genausogut wie die Männer.«
»Ich kenne Nugeter seit Jahren«, sagte Kirsig eilig. »Er hat immer bei meinem Vater Proviant gekauft, den er unterwegs brauchte. Er ist einer der besten Seefahrer dieser Gegend und ist bereit, euch übers Blutmeer zu fahren.«
»Nicht umsonst«, erinnerte Nugeter, der der Halbogerin mit dem Finger drohte.
»Außerdem«, fügte Kirsig eifrig hinzu, »werdet ihr Hilfe für diesen Zwerg brauchen… die Hilfe eines Heilers, meine ich. Ich habe über die Jahre einiges mitbekommen. Damit kann ich zwar nicht gerade die Pest heilen, aber doch den Schmerz lindern und die Heilung des Bruchs beschleunigen.«
Flint warf einen hilflosen Blick auf Tanis und Raistlin. Tanis und Raistlin blickten einander an.
»Na gut«, sagte Tanis resigniert.
Kirsig und die drei Gefährten quetschten sich in das Boot, und der muskulöse Nugeter begann, mit zügigem Schlag zu rudern. Minuten später waren sie aus der Bucht heraus und viele hundert Schritt von der Küste entfernt. Sie konnten kaum noch den schattenhaften Umriß von Ogerstadt auf dem steilen, felsigen Hügel erkennen.
Ein blasses, rosiges Licht zeigte sich am Himmel, als sie Nugeters Schiff erreichten.
Etwas griff nach Sturm. Schwach schaute der Solamnier mit benebeltem Blick nach oben. Er merkte, daß er hochgezogen wurde.
Als nächstes nahm er wie durch einen Nebel wahr, daß er neben Caramon auf dem Boden eines kleinen Bootes lag. Seinem Freund hingen die Kleider in Fetzen vom Leib, sein Körper war von verkrusteten Wunden bedeckt. Die wenige Haut, die unversehrt geblieben war, war von der Sonne zu einem kräftigen Bronzeton gebrannt worden. Sturm starrte den jungen Krieger an, der die Augen geschlossen hatte. Erleichtert stellte der Ritter fest, daß sein Kamerad gleichmäßig atmete. Dann verlor Sturm das Bewußtsein.
Ein knorriger, alter Fischer namens Lazaril hatte die beiden aus der See gefischt, ihre Fesseln durchgeschnitten und sie in sein Boot geworfen.
Jetzt betrachtete sie der drahtige, gebeugte Fischer nachdenklich. Er stützte sein Kinn in die Hand. Lazaril hatte gehofft, heute morgen ein paar Aale zu fangen, die er dann auf dem freien Markt in Atossa, einer Stadt an der Nordküste von Mithas, verkauft hätte. Aber wenn er es richtig anstellte, konnten diese beiden Menschen ihm das Zehnfache einbringen.
Sie sahen allerdings schrecklich aus – halbtot. Er mußte sie erst waschen, so gut er das vermochte. Also zog er seine Lederjacke aus und legte sie auf den Kleineren, dessen Hemd fortgerissen war. Und er versuchte, ihnen Gesicht und Wunden abzuspülen. Sie hatten jede Menge Verletzungen, doch damit kam Lazaril zurecht. Sie konnten sich schließlich nicht wehren. Vielleicht war ihr Schiff versenkt oder von Piraten überfallen worden. Das war Pech für sie, aber ein Glücksfall für Lazaril.
Die zwei Freunde wachten kurz auf, denn sie mußten würgen, als Lazaril ihnen klares Wasser in den Mund goß und sie dann zwangsweise mit etwas Trockenfisch fütterte. Der Größere, den er zuerst aus dem Meer gezogen hatte, blickte ihn mit fragenden Augen an, schluckte aber trotz seiner Benommenheit hungrig, bis er wieder bewußtlos wurde. Der andere schien in noch schlimmerem Zustand zu sein. Lazaril konnte nur wenige Bissen in ihn hineinstopfen.
Mit schneller Hand flickte der Fischer notdürftig ihre Kleider und rieb dann ihre Haut mit einem Allzweckbalsam ein, um den Sonnenbrand zu lindern. Anschließend sahen die beiden Halbertrunkenen fast wieder normal aus. Nun, nicht ganz, aber fast.
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