Das wäre auch unklug gewesen.Zur gleichen Zeit, zu der Tolpan in seiner Zelle in der Minotaurenhauptstadt Lacynos gefoltert wurde, sperrte man Sturm Feuerklinge und Caramon Majere keine dreißig Meilen weiter in der kleinen Stadt Atossa ins Gefängnis.
Da sie erleichtert waren, dem sicheren Tod im Blutmeer entgangen zu sein, verzichteten Sturm und Caramon auf Widerstand. Um ehrlich zu sein, hatten sie auch weder die Kraft noch den wirklichen Willen dazu.
Nachdem man sie in eine schmutzige Zelle – eine von Dutzenden in dem unterirdischen Kerker von Atossa – geworfen hatte, sanken die beiden Freunde auf dem Steinboden zusammen. Sie verschliefen den Rest des Tages und die sich anschließende Nacht, und als sie erwachten, aßen sie voller Gier. Minotaurenwachen gaben Schüsseln mit Fleisch und Wasser aus riesigen Eimern aus, die sie von Zelle zu Zelle schleppten. Trotz des unappetitlichen Geruchs und der Farbe des Fleisches beklagten sich Caramon und Sturm nicht. Noch nie waren sie so hungrig gewesen.
Am zweiten Abend waren sie soweit, daß sie sich aufsetzen und miteinander reden konnten. Obwohl ihnen die Kleider in Fetzen von ihren dreckigen Körpern hingen, die überall von dem zeugten, was sie durchgemacht hatten, konnten Caramon und Sturm auf die Kraftreserven der Jugend zurückgreifen. Sie erholten sich erstaunlich schnell.
»Nach dem, was ich mitbekommen konnte, und aufgrund des Aussehens unserer Wärter, glaube ich, daß wir auf der Insel Mithas sind«, sagte Sturm zu Caramon, als die beiden sich an jenem Abend mit leiser Stimme unterhielten. »Irgendwie sind wir mit der Venora über Tausende von Meilen von der Straße von Schallsee an den äußeren Rand des Blutmeers getrieben. Und der, der diese unglaubliche Tat vollbracht hat, hat aus irgendeinem Grund Tolpan gefangengenommen und uns über Bord geworfen, damit wir umkommen.« Sturm schwieg, denn er dachte an die Tage, in denen sie durch das aufgewühlte, tückische Blutmeer getrieben waren. »Was uns auch hier erwarten mag, wir können von Glück sagen, daß wir noch am Leben sind. Das Blutmeer gibt nicht viele Schiffbrüchige wieder her.«
»Und was meinst du«, fragte Caramon langsam, »was aus Tolpan geworden ist?«
Sturm schüttelte traurig den Kopf.
An ihrem dritten Morgen in der Zelle kamen zwei viehisch aussehende Minotauren und starrten sie an. Einer von ihnen trug Abzeichen, die offiziell wirkten, und hörte zu, wie der andere leise grollend sprach, der dabei abwechselnd auf Caramon und Sturm deutete.
»Sieh nur, wie schnell sie sich von ihren Wunden erholt haben. Sie sind sehr starke Kämpfer. Wenn wir ihnen Zeit lassen, zu gesunden und wieder zu Kräften zu kommen, können sie uns bei den Spielen unterhalten. Wenn sie nicht zu Gladiatoren taugen, können wir sie immer noch in die Sklavengruben werfen.«
Caramon starrte sie teilnahmslos an. Er fühlte sich schwach und zerschlagen und konnte sich sowieso nicht zusammenreimen, wovon die Rede war. Was machte es schon, was aus ihm werden würde, Minotaurensklave oder ein zum Untergang verurteilter Gladiator, hier, Tausende von Meilen von Solace entfernt?
Sturm stand auf und steckte sein Gesicht zwischen die Gitterstäbe. Er funkelte die beiden Minotauren an. »Gern würde ich auf der Stelle gegen einen von euch antreten«, sagte der junge Solamnier zornig, »wenn ihr mich auch nur einen Moment hier rauslassen würdet! Ich werde nie ein Sklave, und was eure Gladiatorenkämpfe angeht – pah!« Er spuckte in ihre Richtung.
Einen Augenblick später hatte der Minotaurus mit den Insignien auch schon ausgeholt und Sturm mitten ins Gesicht geschlagen, bevor der Solamnier sich sicher hinter die Stäbe zurückziehen konnte. Mit blutender Lippe taumelte er zurück.
»Der da ist ziemlich dumm«, polterte der hochrangige Minotaurus, »aber wir werden ihm seine Dummheit schon austreiben.« Mit seiner riesigen, behaarten Hand rieb er sich das Kinn und betrachtete dabei die zwei Gefährten.
»Laß den da«, der Minotaurus zeigte auf Caramon, »beim Füttern und Eimerleeren helfen. Als Belohnung«, sagte er höhnisch grinsend, »weil er seinen Mund gehalten hat. Im Gegensatz zu seinem Freund soll er Gelegenheit haben, sich zu strecken und seine Muskeln aufzubauen, und wenn die Zeit kommt, daß er um sein Leben kämpfen muß, lebt er vielleicht etwas länger.«Am nächsten Morgen wurden die Gefährten unsanft von den Minotaurenwachen geweckt. Eine Wache hielt Sturm ein Schwert an die Kehle, während die andere Caramon aus der Zelle heraus winkte. Man reichte Caramon zwei riesige Eimer mit Fleisch und Wasser und wies ihn an, jedem der Gefangenen in den Zellen eine Portion davon zu geben. Die dunklen, feuchten Gänge gingen in alle vier Himmelsrichtungen auseinander.
Als Caramon unter dem Gewicht der Eimer schwankte, merkte er, wie sehr ihn sein Abenteuer im Meer geschwächt hatte. Die Minotaurenwachen lachten über Caramon, als er sich abmühte, die Eimer anzuheben und dann den vorgegebenen Weg entlangstolperte. Eine der Wachen kehrte an ihren Posten zurück, während die andere mit gezücktem Schwert hinter Caramon her trottete, um sicherzugehen, daß der lächerliche Mensch das tat, was man ihm befohlen hatte.
Drei Stunden lang wanderte Caramon durch die Kellergänge und füllte die Tröge, die vor den Gefängniszellen standen. Von innen konnten die Gefangenen ihre Hände ausstrecken und Nahrung und Wasser schöpfen.
Es waren sowohl minotaurische als auch menschliche Gefangene, wie der Zwilling überrascht feststellte. Trotz der Demütigung durch die Gefangenschaft starrten die gefangenen Minotauren Caramon voll bitterer Verachtung an. Obwohl er ihnen brachte, was sie lebensnotwendig brauchten, war Caramon für sie nur ein Angehöriger der minderwertigen Rasse Mensch.
Die meisten Gefangenen waren Abtrünnige, Piraten oder Schlimmeres. Manche waren so müde, krank oder verletzt, daß sie nicht einmal reagierten, wenn Caramon ihr Essen brachte. In mindestens einem Fall war Caramon sich sicher, daß der Gefangene, der einsam in einer Ecke zusammengekugelt lag und von Insekten bekrabbelt wurde, längst tot war. Er sagte dies der Minotaurenwache, die immer in der Nähe war, um ihn zu beobachten.
Der Wächter reagierte gleichgültig, sah allerdings näher hin und schrieb etwas in ein ledergebundenes Buch, das an seiner Seite hing.
Am hintersten Ende des einen Gangs lag eine einzelne Zelle, die mehrere hundert Fuß von ihrem nächsten Nachbarn entfernt war. Das war der seltsamste Fall von allen. Eine elende Gestalt war an der Innenwand so festgezurrt, daß sie aufrechtgehalten wurde und weder sitzen noch liegen konnte. Der Körper wirkte gebrochen. Der Kopf hing herunter. Der Mann mußte seine ganze Kraft zusammennehmen, um aufzuschauen, als Caramon taumelnd mit den Fleisch- und Wassereimern zu ihm kam.
Caramon konnte in der schwach erleuchteten Zelle kaum etwas sehen, doch er erkannte, daß der Mann einen ovalen Kopf hatte. Seine Augen waren winzige, schwarze Löcher. Eiter und Blut quollen ihm aus Schultern und Rücken, als ob man ihm etwas Lebenswichtiges abgerissen hätte. So wie er da hing, sah er nicht so aus, als ob er überhaupt noch am Leben sein könnte, doch beim Anblick von Caramon brachte er ein neugieriges, tapferes Lächeln zustande.
Caramon fragte sich, wie der gebrochene Mann herkommen sollte, um sein Fleisch zu essen und sein Wasser zu trinken. Nachdem er die Eimer abgestellt hatte, zögerte der Krieger.
»Na los«, knurrte die Minotaurenwache einige Fuß hinter Caramon. »Hin und wieder lassen wir ihn essen. Ansonsten kann er es ansehen und riechen, wie es verfault. Das gehört hier alles zum Service.«
Caramon ließ sich Zeit, während er das Fleisch abmaß und etwas Wasser in den Trog des Mannes schöpfte. Wie erwartet hatte sich die Minotaurenwache müßig umgedreht und war einige Schritte den Korridor heruntergewandert. Der Wächter beobachtete sie nicht mehr genau.
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