Der Minotaurus mit den hochrangigen Abzeichen kam wieder in den Kerker herunter und ging Caramons Weg ab, während sein hündischer Menschensklave neben ihm hersprang. Der Minotaurus lief nachdenklich die Gänge auf und ab und sah sich alles an. Vor der Zelle, an der die Wache Caramon angeblich zum letzten Mal gesehen hatte, blieb er stehen. Er betrachtete den armseligen Insassen der Zelle, der kaum noch am Leben war, und starrte Wände, Boden und Decke an.
Obwohl er ein sehr intelligenter Minotaurus war, konnte er sich beim besten Willen nicht vorstellen, wie der Mensch, den man auf eine glorreiche Zukunft als Gladiator vorbereitet hatte, entkommen war. Wo konnte er hin sein?
Er und sein minotaurischer Berater ließen ihre Enttäuschung an dem anderen Menschen aus, dem mit dem Namen Sturm. Sie schlugen ihn blutig, um zu erfahren, wie sein Kamerad verschwunden war. Vielleicht schlugen sie Sturm ein bißchen zu fest, denn das Gesicht des Menschen schwoll derart an, daß er nicht einmal dann etwas hätte sagen können, wenn er es gewollt hätte. Auf jeden Fall hätte er sowieso nicht viel sagen können, denn Sturm wußte nichts darüber, wo Caramon war oder wie er entkommen war.
Nachdem sie ihn zusammengeschlagen hatten, entschied der minotaurische Offizier, daß der mit dem Namen Sturm wahrscheinlich keine Ahnung hatte, sonst hätte er geredet. Bei näherer Betrachtung war es wohl das Beste, Sturm erneut gesund zu pflegen und ihm das beste Essen und Wasser zu bringen.
Mit etwas Glück würden sie nach all dem Ärger dennoch wenigstens einen Gladiator bekommen.
Mit einem tiefen Seufzer diktierte der Minotaurus seinem kriecherischen Menschensklaven dann einen Bericht. Der Bericht würde in die Hauptstadt Lacynos zum König persönlich geschickt werden. Es war zwar unangenehm, doch es war seine Pflicht, einen so ungewöhnlichen Vorfall wie eine Flucht aus dem Kerker von Atossa zu melden.
Kapitän Nugeter lebte davon, daß er die Castor vermietete, um Ladung, Leute, ganz gleich, worum man bat, durch die Ostmeere zu schiffen, ohne Fragen zu stellen. Tanis, Raistlin, Flint und Kirsig wurden daher kaum von der Mannschaft beachtet, als sie am Morgen an Bord gingen.
Da Tanis eine ereignisreiche Reise erwartete, beschloß er, ein Logbuch zu führen. Zu diesem Zweck erbat und erhielt er vom Kapitän Papier aus dessen Vorrat.
ERSTER TAG
Stürmischer Wind und Schmuddelwetter begrüßten uns, sobald wir die Küstenlinie nicht mehr sehen konnten. Die rötliche See nahm eine schmutzig braune Farbe an, ein Vorzeichen für die vor uns liegenden Gefahren.
Kapitän Nugeter versammelte mich, Flint, Raistlin, die Halbogerin Kirsig und seinen Ersten Steuermann – eine große, breitschultrige hellblonde Frau mit dem Namen Yuril (sie erinnert mich ungemein an Caramon, denn sie ist eine wirklich imposante Gestalt) – in seiner Kabine, um einen Blick auf die Karten zu werfen und die Route abzusprechen.
Obwohl Nugeter ein arroganter Mensch ist, kann man am Verhalten seiner Mannschaft erkennen, daß er sich sowohl ihre Sympathie als auch ihren Respekt erworben hat. Kirsig spricht jedenfalls in hohen Tönen von ihm, hauptsächlich wegen seiner Begegnungen mit ihrem Vater. Seine Kabine ist bescheiden eingerichtet. Sie enthält einen einfachen Schreibtisch, einen Wandschrank mit Sternen- und Seekarten und eine kleine Hängematte.
Als alle da waren, begann Kapitän Nugeter mit der Warnung, daß es keine Garantie gäbe, daß wir unser Ziel, die fernen Minotaurischen Inseln, sicher erreichen würden. »Ich habe das Blutmeer öfter als jeder andere Seefahrer herausgefordert«, erklärte der Kapitän, »aber ich vergesse nie, daß es ein Risiko ist, ein tödliches. Eure Gründe sollten es wert sein, dafür euer Leben aufs Spiel zu setzen.«
Flint wollte etwas sagen, doch Raistlin schnitt ihm das Wort ab. Das gebrochene Bein des Zwergs war sauber verbunden, doch sein Gesicht war grün, und zwar seit man ihn an Bord des Schiffes gehievt hatte. Die unruhige See, der wir seit dem Segelsetzen ausgesetzt waren, hatte seine Vorurteile gegenüber Seereisen bestätigt und sein Leiden verstärkt.
Raistlin versicherte dem Kapitän, daß wir nicht die Absicht hätten, umzukehren. Um dies zu bekräftigen, legte er einen Beutel mit Edelsteinen und Münzen auf den Tisch des Kapitäns. Ihr Wert war beträchtlich. Flint setzte sich mit großen Augen auf. »Das Doppelte«, betonte Raistlin, »wenn wir die Überfahrt in zehn Tagen schaffen.«
Andere Kapitäne halten sich ganz außer Reichweite des äußeren Rings des Mahlstroms inmitten des Blutmeers. Das ist der klügste Kurs, denn wenn ein Schiff in diese mächtige Unterströmung gerät, wird es in die immer engeren Ringe des Strudels gezogen und schließlich in das dunkelrote Wasser hinab, das unablässig dort wirbelt, wo einst die große Stadt Istar lag.
Nugeter schlug vor, den äußeren Ring des Mahlstroms direkt anzusteuern und mit der Strömung zu fahren, ohne in den Strudel zu geraten. Sobald wir nahe genug an den Inseln der Minotauren wären – ungefähr dreihundert Meilen –, würde sich die Castor aus dem tödlichen Sog freikämpfen.
»Das ist der einzige Weg, wie wir die Entfernung innerhalb von zehn Tagen überwinden können«, schloß der Kapitän. »Ansonsten ist es wegen der Strömungen und der Winde eine Reise von mehreren Wochen. Sicherer, aber weitaus langsamer.«
»Hast du das schon je zuvor versucht?« fragte Raistlin eindringlich.
»Nein«, gab der Kapitän schlicht zu.
Nach seiner Antwort lag lastende Stille in der Luft. »Aber es ist machbar«, meldete sich Yuril unerwartet zu Wort. »Ich bin mal mit einem Kapitän gefahren, der es geschafft hat. Es war eine schreckliche Reise. Wir mußten nicht nur mit der Strömung kämpfen, sondern auch gegen den ständigen Sturm, der im Mahlstrom herrscht. Der Tod winkte jeden Augenblick. In den hohen Brechern haben wir viele gute Seeleute verloren. Aber der Kapitän war entschlossen, es zu schaffen. Er hat sein Schiff exakt im richtigen Moment gewendet, so daß wir freikamen. Damit haben wir viel Zeit gespart.«
Neugierig fragte ich sie, was denn aus dem Kapitän geworden sei. Warum segelte sie jetzt mit Kapitän Nugeter?
»Pah«, entgegnete Yuril. »Mein alter Kapitän ist an Land umgekommen, in Blutsicht. An Bord seines Schiffes war er genial, in anderer Hinsicht ein Einfaltspinsel. Da besiegt einer das Blutmeer, nur um sich bei einer gewöhnlichen Kneipenschlägerei erstechen zu lassen!« Sie hielt inne und straffte die Schultern, während sie ihrerseits jeden von uns anstarrte. »Ich segele schon zwei Jahre mit Kapitän Nugeter. Er hat den nötigen Schneid und das Können. Damit ist es machbar.«
Sie stieß den Finger auf die Karte, die auf dem Tisch lag, um zu zeigen, wo das Schiff in den Mahlstrom eintreten würde und wo wir – wenn das Glück uns hold war – wieder ausgespuckt werden würden.
Yuril sagte, der äußere Ring des Blutmeers läge bei günstigem Wind und ohne Zwischenfälle ungefähr drei Tage entfernt.
»Wie lange werden wir in diesem… Mahlstrom sein?« fragte Kirsig etwas kläglich.
»Zwei Tage und zwei Nächte«, erwiderte Yuril. »Wenn wir auf Kurs bleiben.«
Raistlin schien über der Karte zu grübeln. Ich wartete auf seine Entscheidung.
Flint flüsterte mir kummervoll zu: »Meinst du nicht, wir sollten die langsamere und sichere Methode in Betracht ziehen? Wir haben doch wirklich keinen Beweis, daß Sturm, Caramon und Tolpan unmittelbar in Gefahr sind.«
Raistlin warf ihm einen vorwurfsvollen Blick zu. Flint sah zu Boden und zupfte an seinem Bart.
Ich wußte, daß mein alter Freund nicht weniger um die anderen besorgt war als Raistlin und ich. Ich klopfte ihm auf den Rücken und flüsterte: »Dadurch kommen wir schneller von diesem Schiff runter.« Dann sprach ich mich für den Plan aus.
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