Das Stöhnen und Schreien wurde lauter. Dann folgte ein Knall und splitternde Geräusche, als wenn… Ja, was? Es klang, als würde ein Schiff auflaufen, als würde Holz brechen, als würde etwas auf einem unerkannten Riff Leck schlagen. Der chaotische Lärm schwoll wie durch ein geisterhaftes Echo an und wieder ab.
Regentropfen mischten sich in den Dunst und prasselten auf ihre Gesichter herab. Die Wellen legten sich, so daß die See unheimlich ruhig wurde. Sie waren von geisterhafter, grauweißer Leere umgeben.
»Was kannst du sehen?« fragte Caramon mit rauher, brüchiger Stimme.
»Nichts«, erwiderte Sturm. »Und du?«
»Weniger als nichts.«
Plötzlich ragte eine große Masse, eine beeindruckende Ansammlung von Umrissen, vor ihnen aus dem Dunst. Einen Augenblick geriet Caramon in Panik, weil er glaubte, ein gewaltiges Seeungeheuer würde sich auf sie stürzen. Dann klärte sich sein Blick ein wenig, und trotz seiner Erschöpfung erkannte er, daß die Masse in Wirklichkeit aus einer Reihe Wracks und verstreuten Überresten von Schiffen bestand. Es knarrte, als die Wracks durch das eigentümlich ruhige Wasser glitten.
Die verfaulenden Schiffe waren ekelhaft weiß wie der Bauch eines toten Fisches und von klaffenden Löchern übersät. Ihr Holz war voller Blut- und Rostflecken und von gelbgrünem Schleim überzogen. Merkwürdige Muscheln und Meerestiere hingen an den Seiten. An den Masten flatterten zerfetzte Segel. Der Wind stöhnte durch die Takelage. Es erschien unmöglich, daß diese Schiffe noch schwammen.
»Sieh nur!« rief Caramon.
Ein dunkler Schatten glitt auf sie zu, das größte Schiff der leckgeschlagenen Flotte. Am Bug stand eine einzelne, verhüllte Gestalt. Drei Leichen baumelten leise schaukelnd an einem hohen Mast. Als sich das Schiff auf ein Dutzend Fuß genähert hatte, drehte sich die Gestalt mit der Kapuze um und neigte den Kopf, als ob sie sie beobachten würde.
Der Kapuzenmann zeigte auf Sturm und Caramon. Das Phantomschiff war so nah gekommen, daß Caramon die feuerroten Augen in den schwarzen Höhlen seines konturlosen Gesichts sehen konnte. Mit seinem knochigen Finger winkte der vermummte Geist – denn ein Geist mußte das Wesen einfach sein, dachte Caramon.
Das Schiff fuhr so nahe heran, daß die beiden ausgesetzten Freunde hätten hochgreifen und es berühren können, wenn sie die Arme dazu frei gehabt hätten. Einzelne, verrottete Planken ragten aus der Seite heraus. Caramon mußte fest treten, um nicht von einem von ihnen getroffen zu werden.
Während das Schiff vorbeifuhr, brachen Stücke von ihm ab und krachten aufs Deck oder platschten ins Wasser. Der vermummte Geist rührte sich nicht, doch seine Augen folgten ihnen. Caramon fühlte den furchtbaren Blick auf sich und Sturm lasten.
So plötzlich wie sie gekommen war, verschwand die Geisterflotte wieder im Dunst. Durch ihren Abzug wurde das brackige Wasser um Sturm und Caramon aufgewühlt, und der Wind frischte auf und steigerte sich schnell zum Sturm. Eine starke Strömung zog an Caramons Beinen. Wellen brachen über ihnen zusammen und füllten Mund und Nase mit Wasser. Der merkwürdige Strudel zog sie nach unten.
Mit einer letzten Kraftanstrengung schlug Caramon mit den Beinen, um sich über Wasser zu halten. Als er nach Luft schnappte, bemerkte er, daß sein Freund noch schlimmer dran war. Sturm hing tief im Salzwasser, so daß seine Lungen fast barsten. Caramon gab sich Mühe, Sturm nach Kräften hochzuhieven, während er gegen den enormen Sog der See ankämpfte.
Sturms Kraft war verbraucht, doch der Solamnier geriet nicht in Panik. Er bedauerte seinen Tod, doch die See hatte sich als würdiger Gegner erwiesen. Der Tod bot eine willkommene Zuflucht. Er fühlte, wie die Wellen sich gewiß zum letzten Mal über seinem Kopf trafen, als der Wirbel plötzlich nachließ und die See sich beruhigte.
Sturm und Caramon kamen hustend an die Oberfläche. Immer noch wogte das Meer um sie her, doch es war weniger bedrohlich. Um sie herum lag wieder Nebel. Die beiden Gefährten klammerten sich, so gut sie konnten, an den Mast, der sie sowohl gefangen, als auch an der Oberfläche hielt. Der halbertrunkene Sturm war kaum noch bei Bewußtsein. Der erschöpfte Caramon kämpfte gegen das Bedürfnis einzuschlafen an.
Irgendwie hielten sie durch. Am Morgen des fünften Tages waren die zwei jungen Männer am Rande der Verzweiflung. Schorf bedeckte ihre Lippen. Ihre Gesichter waren so verbrannt, daß die Haut sprang und eine glitzernde Flüssigkeit austrat. Sie steckten bis zum Hals im Wasser, doch ihre Kehlen waren ausgedörrt.
Immer noch trieben sie aneinanderhängend und an den Mast gefesselt weiter. Die braunen Wellen brachen über sie hinein. Die endlose, gnadenlose See erstreckte sich in alle Richtungen.
Caramons Beine waren so verkrampft, daß er sie kaum noch bewegen konnte. Sturms Augen waren zu verquollenen Schlitzen geschrumpft. Die nicht enden wollende Anstrengung, ihr Kinn über Wasser zu halten, hatte ihren Verstand ebenso betäubt, wie sie ihren Körpern zusetzte.
»Wenn… wenn ich nur diese Fesseln lösen könnte«, keuchte Caramon, dem Wasser in den Mund schwappte, als er ihn zum Sprechen aufmachte. »Allein hättest du vielleicht bessere Chancen.«
»Ich!« rief Sturm schockiert aus. »Ich würde dich nie verlassen! Das wäre unehrenhaft.«
»Jedenfalls«, stellte Caramon mit einem flüchtigen Blick auf Sturm fest, »kann ich sie nicht zerreißen, also schätze ich, daß wir weiterhin aneinander hängenbleiben.«
Minutenlang herrschte Schweigen zwischen ihnen. »Der Mast ist ein Fluch«, sagte Sturm schließlich mit Grimm in der Stimme. »Er hält uns über Wasser, aber nur gerade eben… gerade genug, um uns zu quälen. Ertrinken wäre besser.« Er hielt inne und blickte aufs Meer. »Da! Da sind sie wieder!«
Zwei Meeresraubtiere umkreisten sie seit einem Tag. Vier runde, schwarze Augen in einer breiten Stirn schauten hin und wieder aus dem Wasser, wenn eines der Tiere auftauchte, um Luft zu holen. Die hilflosen Gefährten konnten die dicke, knubbelige Haut und die Klauen mit den Schwimmflossen sehen. Sie erhaschten auch einen Blick auf mächtige Kiefer mit Reihen von dreieckigen Zähnen. Obwohl es riesige Wesen von mindestens acht Fuß Länge waren, hielten sie stets respektvollen Abstand. Stundenlang umkreisten sie ihre Beute oder tauchten lange in die Tiefe, um dann wieder zu beobachten.
»Vodyanoi… verwandt mit den Erdkolossen«, krächzte Caramon. »Ich habe gehört, daß sie im tiefen Wasser leben. Warum greifen sie nicht an?«
»Vodyanoi sind schlau«, sagte Sturm mühsam flüsternd, »aber auch feige. Es muß ein Pärchen sein. Ich wette, wenn es ein ganzer Schwärm wäre, wären wir jetzt schon tot. Aber sie wissen, daß wir müde sind. Es dauert nicht mehr lange. Sie müssen nur warten. Das ist viel einfacher als kämpfen.«
Sturm nahm all seine Kraft zusammen und trat nach den massigen Meereswesen. Die beiden Vodyanoi rissen ihre riesigen Mäuler auf, stießen einen durchdringenden Schrei aus und tauchten ab.
»Keine Sorge«, murmelte Sturm, der kurz die Augen schloß. »Die kommen zurück.«
Sturm glaubte nicht, daß er und Caramon den Tag überleben würden. Sein Magen brannte, als wäre er vergiftet. Seine Beine hingen leblos herunter wie ein totes Gewicht. Einmal oder zweimal hatte er hinüber gesehen und bemerkt, daß Caramon am Eindösen war. Sein Kinn lag sehr gewagt auf dem schaukelnden Mast. Sturm wollte seinen Freund warnen, wach zu bleiben, doch sein ausgetrockneter Mund brachte kein Wort mehr heraus.
Ein Schatten tanzte vor Sturm über das Wasser. Beim Aufblicken sah er oben am diesigen Himmel einen schwarzen Punkt kreisen, doch er war sich nicht sicher. Er glaubte, er hätte diese schwarze Gestalt schon einmal gesehen… gestern? Was war das? Ein weiterer Jäger wie die Vodyanoi, tippte er. Auch am Himmel wartete man auf ihren Tod.
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