»Sie hat die Wahrheit gesagt«, murmelte Raistlin. »Morat hat gesagt, wenn Chental Pyrnee anfängt zu feilschen, dann bleibt sie auch fair.«
»Aber wie willst du die schwierige Klippe hochklettern?«
»Laß das meine Sorge sein«, wies Raistlin ihn zurecht. »Schlaf lieber!«
Flint schnaubte wütend, sagte aber nichts mehr. Er zerrte seine Bettrolle heraus, legte sich mit dem Rücken zu den anderen darauf, und sehr bald und sehr laut hörte man nur noch sein Schnarchen. Nach diesem unangenehmen Zwischenspiel redeten Tanis und der junge Zauberer nicht weiter miteinander.
Lunitari und Solinari schienen an entgegengesetzten Enden des Himmels, von wo aus sie sich langsam aufeinander zu bewegten. Die Bahnen der beiden würden sich zu dieser Zeit im Jahr, im Spätsommer, nicht überschneiden. Hier oben war die Nacht von Sternen erhellt. Das Blattwerk hatte sich schon beträchtlich gelichtet. Der Hang war mit bizarren Steinen übersät. Das Licht der Monde und der Sterne gab den Blick auf vereinzelte, kümmerliche Bäume frei, die zwischen Gipfeln lagen, welche von leuchtendem Schnee bedeckt waren.
Durch die friedliche Nacht drangen die leisen Geräusche der Nachttiere. Ein sanfter Wind raschelte in den Baumkronen. Tanis sog tief den Duft der Pinien, der Erde und der frischen Bergluft ein.
Er wagte einen Blick auf Raistlin, der mit ineinander gelegten Händen immer noch gedankenverloren dasaß. Er wirkte so ausgelaugt und bedrängt, als ob ihn ein scharfer Windstoß umpusten könnte. Tanis sah, wie der junge Magier seufzend aufstand und begann, um das Lagerfeuer herum hin und her zu gehen. Der Halbelf war sich Raistlins körperlicher Grenzen durchaus bewußt, besonders im Vergleich zu seinem robusteren Zwilling. Aber er wußte auch, daß der junge Magier regelmäßig mit Caramon zusammen auf Abenteuer auszog. Und mehr als einmal hatte Tanis einen Funken desselben Feuers gesehen, das Raistlins Halbschwester Kitiara erfüllte. Nein, Flint hatte kein Recht, den jungen Magier zu unterschätzen, beschloß Tanis. Weder körperlich noch sonstwie.
In diesem Augenblick sah Raistlin auf. Er begegnete Tanis’ Blick und gab ihn trotzig zurück.
»Was Flint wirklich zu schaffen macht«, meinte Tanis versöhnlich, »ist der Gedanke an das Blutmeer. Er weiß, daß du die Reise schaffst. Aber er selbst hat panische Angst davor, jedwedes Wasser zu überqueren, und zwar schon seit jenem mißglückten Zelten am Ufer des Krystallmirsees.«
Raistlin gluckste leise und setzte sich wieder. Die Erschöpfung nach den Anstrengungen des Tages lastete wie ein schweres Gewicht auf ihm. »Vielleicht«, sagte der junge Magier leise.
Vor ein paar Monaten hatten Flint und Tolpan einen Ausflug an das jenseitige Ufer des Krystallmirsees gemacht. Caramon und Sturm waren mitgekommen und hatten sich tagsüber mit dem graubärtigen Zwerg im Jagen und Fährtenlesen geübt. Tolpan war mit Raistlin herumgestromert, der sich damit beschäftigt hatte, Kräuter und Blumen für seine Zaubersprüche zu sammeln. Ironischerweise war es jener Tag gewesen, an dem Tolpan Raistlin von seinem guten Freund Asa und dem ungewöhnlichen kräuterkundigen Minotaurus aus Südergod erzählt hatte.
Es war ein herrlicher Tag gewesen, einer der ersten längeren Ausflüge der Gefährten, der nur von einem Zwischenfall am nächsten Morgen überschattet wurde. Tolpan hatte ein Boot »gefunden« und die anderen überredet, es in den friedlichen Krystallmirsee zu schieben. In einiger Entfernung vom Ufer hatte Caramon einen großen, grünen Hecht träge herumschwimmen sehen und mit dem ihm eigenen Feuereifer geprahlt, er könne ihn mit der Hand fangen. Allerdings hatte sich Raistlins Zwillingsbruder zu weit hinausgelehnt, so daß das Boot gekentert war.
Raistlin hatte schnell geschaltet und war unter dem Boot in der dort eingeschlossenen Luftblase aufgetaucht. Tolpan und Sturm waren gute Schwimmer, denen es gelang, das Boot wieder aufzurichten. Flint tauchte, um den schweren Caramon zu retten, der nicht schwimmen konnte und sofort untergegangen war. Die drei warteten besorgt, doch die Zeit verging. Schließlich sprangen Sturm und Tolpan wieder hinein. Sturm zerrte den prustenden Caramon an die Oberfläche, und kurz darauf kam Tolpan wieder hoch, der Flint am Kragen hielt. Der halb ertrunkene, hustende und frierende Zwerg schwor, daß ihn den Rest seines Lebens keiner mehr in ein Boot locken könnte.
»Wenn man bedenkt, wie schlecht Flint schwimmen kann«, sagte Tanis, »war es ziemlich heldenhaft von ihm, daß er versucht hat, deinen Bruder zu retten.«
»Heldenhaft und dumm«, grunzte Raistlin. Aber sein Tonfall klang milder. Tanis, dessen Blick vom rhythmischen Schwanken der Baumkronen abgelenkt wurde, bemerkte nicht, wie der junge Magier auf seiner Decke zusammensank und den Mantel um sich schlang.
»Ja«, grinste Tanis. »Heldenhaft und dumm. Zwei Worte, die gut zusammenpassen.« Er blickte zur Schönheit von Monden und Sternen empor und sog die Friedlichkeit des Ortes in sich auf. »Flint hat diesen Zwischenfall immer wieder erwähnt«, überlegte er leise. »Er erinnert sich bestens daran. Am schlimmsten war es für ihn vielleicht, daß er von Tolpan gerettet wurde. Wie man es auch dreht und wendet, er verdankt dem Kender sein Leben – jedenfalls damals. Daß er diese Schuld zurückzahlen muß, könnte das einzige sein, was ihn wieder aufs Wasser bringt – selbst auf so verfluchtes Wasser wie das Blutmeer.«
Tanis hielt inne, denn seine Gedanken schweiften kurz zu Kitiara. Eine Welle verwirrter Gefühle überrollte ihn. Der Halbelf hatte sich noch nie überwinden können, mit Raistlin über sie zu sprechen. Jetzt war vielleicht ein guter Zeitpunkt.
»Sag mal, Raist«, setzte Tanis an. Dann hörte er regelmäßigen Atem und sah, daß der junge Magier fest eingeschlafen war.
Er ging zu Raistlin hinüber und warf ihm eine zusätzliche Decke über. Die Luft wurde kalt. Tanis setzte sich wieder. Seufzend zog er seinen Mantel um die Schultern. Obwohl die Gegend sicher sein dürfte, beschloß er, lieber ein paar Stunden Wache zu halten, bevor er sich selbst schlafen legte.Spät am nächsten Morgen hatten die Gefährten einen unwegsamen, steilen Pfad an den Berghängen hinter sich gebracht und erreichten den Ort, den die Ogerin beschrieben hatte und den Flint von früheren Ausflügen kannte. Er stand in einer engen Schlucht und zeigte hinauf zu einer Ansammlung Sandsteinzinnen, die Wind und Wasser geformt hatten, bis sie sich wie eine Festung hoch in den Himmel reckten. Auf der Spitze der einen konnten sie einen steinernen Vorsprung sehen, der nach Osten zeigte, wo die einzigartige Struktur von noch imposanteren Bergzügen in den Schatten gestellt wurde.
Flint übernahm die Führung und kletterte am nackten Felsen hoch, wobei er den wenigen, verkrüppelten Bäumen folgte, die sich hartnäckig in den Spalten und Rissen klammerten. Danach kam Tanis, gefolgt von Raistlin. Jeder war über ein Seil um den Leib mit dem nächsten verbunden.
Die Spalte, in der sie hochkletterten, mußte vierhundert Fuß hoch gewesen sein. Sie kamen langsam voran, und zwar vor allem, weil Flint darauf bestand, vorwegzugehen und alles auf seine Weise zu machen. Akribisch genau schob er sich hinauf, indem er kurze Eisenhaken in Armeslänge über seinem Kopf einschlug und sich selbst festband, bevor er mit dem Fuß neuen Halt suchte. Raistlin war mit seinem Vorschlag sehr vorausschauend gewesen, daß der Zwerg alles mitnehmen sollte, was für eine Bergtour notwendig war.
Tanis und Raistlin hatten es dank Flints Vorarbeit einfacher. Dennoch war es selbst für einen erfahrenen Kletterer kein einfacher Weg. Es gab nur wenig sicheren Halt für die Füße. Tanis und Raistlin mußten sich an brüchigen Fels klammern, während sie sich immer weiter nach oben schoben. Gegen Ende kühlte die Luft merklich ab, und unerwartete Windstöße fuhren ihnen in den Rücken.
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