Nach langen Augenblicken schüttelte Raistlin irritiert den Kopf und faßte einen Entschluß. Ohne ein Wort der Warnung an seine Gefährten nahm er seinen Stab herunter, zog den Kopf ein und verschwand in der schwarzen Höhlung. Fast augenblicklich ließ der Nebel nach und wurde mit ihm in die Höhle gesogen. Flint und Tanis mußten sich sputen, um nachzukommen.
Gleich hinter der Öffnung stießen die drei zusammen. Raistlin war hinter dem Eingang stehengeblieben, um seinen Augen Zeit zu lassen, sich an das schwache Licht zu gewöhnen. Zunächst konnte keiner von ihnen in der nebligen Dunkelheit viel sehen. Der knochenweiße Nebel umwogte sie, kräuselte sich und veränderte seine Form. Selbst Tanis mit seinen Elfenaugen konnte wenig sehen. Obwohl der Nebel substanzlos erschien, stellte er eine undurchdringliche Sichtbarriere dar. Er verhinderte jedoch nicht das Hören. Nach einem Moment absoluten Schweigens nahmen Tanis und die anderen Stimmen wahr, die unverständlich von weiter hinten in der Finsternis erklangen.
Auch konnten sie noch riechen. »Hier drin stinkt es schlimmer als bei einem toten Troll«, flüsterte Tanis Flint zu, der sich einen Lappen vor Mund und Nase preßte, um dem Gestank zu entkommen.
»Ruhe!« zischte Raistlin.
Der junge Zauberer tastete mit seinem Stab nach vorn und berührte die Decke. Dann erklärte er den anderen, daß sie sich in einem niedrigen Tunnel befanden. Langsam ging er weiter, wobei er mit der rechten Hand den Weg erkundete. Seine Gefährten folgten ihm. Eng beieinander stolperten die drei minutenlang weiter, bis sie zu einer scharfen Biegung kamen. Dahinter erleichterte ihnen ein schwacher Lichtpunkt vor ihnen das Weitergehen.
Das Licht wurde allmählich heller, bis sie in eine Art Behausung traten, die eher rund als eckig war und bis auf den Tunnel keinen weiteren Zugang hatte. In diesem Raum gab es keinerlei unverständliche Stimmen oder dunkle Prophezeiungen. Als Tanis hochschaute, sah er Sonnenlicht eindringen. Der Erdboden war trocken, fest gestampft und sauber gefegt. Ein Stuhl, ein Bett und eine große Korbtruhe wiesen darauf hin, daß jemand hier wohnte.
Am hinteren Ende des Raums dampfte und blubberte ein Kessel. Der Nebel zog sich zurück und waberte über dem Kessel. Kein Hinweis auf den Bewohner oder Besitzer. Der überwältigende, stechende Geruch hing immer noch in der Luft.
Etwas entspannter faßte Tanis an die Wand, die ihn interessierte. Sie war mit Streifen in gedämpften Farben gemasert, schien jedoch weder aus Holz noch aus Stein zu sein. Dennoch fühlte sie sich hart an.
»Irgendein versteinertes Holz«, murmelte Flint bewundernd, während er sich über seinen grauen Bart strich. Er stupste Tanis mit dem Ellenbogen an, um dessen Augen auf Raistlin zu lenken.
Beide sahen etwas befremdet zu, wie der junge Magier, ohne auf seine Gefährten zu achten, weiterging und sich vor dem Bett hinhockte. Offenbar sprach er mit leiser Stimme unmittelbar zum Boden vor seinen Füßen.
»Wir kommen nicht als Feinde…«, murmelte Raistlin mit gesenktem Blick. Tanis und Flint konnten seine Worte kaum verstehen. »… und wenn wir welche wären, könntest du uns sicher leicht besiegen, Chental Pyrnee.«
Als Tanis näher hinsah, erblickte er eine weiße Spitzmaus, die mit heftig zuckenden Barthaaren unter dem Feldbett kauerte. Flint entdeckte das winzige Tier ebenfalls. Die Spitzmaus, die stecknadelgroße, harte, rote Augen hatte, huschte piepsend und quiekend hin und her.
»Du brauchst keine Angst vor uns zu haben«, fügte Raistlin hastig hinzu, der immer noch am Boden kauerte. »Wir sind gekommen, um dir Respekt zu erweisen und um einen Gefallen zu bitten. Ich weiß, daß wir in dein Reich eingedrungen sind, aber bitte hör uns an. Wenn du willst, kannst du uns verbannen oder sogar vernichten. Mein Lehrer, Morat von Teichgrund, sagt, daß du beides kannst, denn du hast wirklich außergewöhnliche Kräfte.«
Ein Knall ließ die Luft erbeben, dem folgte ein Knistern. Die Spitzmaus war verschwunden. Neben dem schweren Kessel erschien wie aus einem Riß in der Luft, der sich unmittelbar hinter ihr schloß, eine alte Ogerin… das Orakel. Sie rührte den Kessel um, während sie ein giftiges, purpurrotes Auge auf Raistlin warf. Das andere Auge schien zugenäht zu sein. Es eiterte.
Mit mißtrauischem Blick machte Tanis einen Schritt zurück. Flint fingerte nervös an seinem Axtgriff herum. Raistlin erhob sich wieder.
»Genauso schnell könnte ich eure Knochen in der Suppe haben!« zeterte die Ogerin. »Glaubt bloß nicht, daß ich das nicht kann. Ich muß bloß den Finger heben!« Ihre Stimme war heiser und schrill. Sie rührte heftig weiter und legte dabei den Kopf in Raistlins Richtung. »Wie geht es denn dem dummen, alten Morat? Ich höre immer nur von ihm, wenn er eine Bitte hat. Wer bist du, daß du seinen Namen in den Mund nehmen darfst?«
Chental Pyrnee war eine unglaublich häßliche Ogerin. Es war unmöglich, ihr Alter oder ihr Gewicht zu schätzen. In ihren losen Kleidern und den zahlreichen Schals in den unterschiedlichsten, unpassendsten, verblichenen Farben steckte eine Frau, dick wie ein Bär. Ihre Anwesenheit schien die Höhle auszufüllen und einen bedrohlichen Schatten über die drei Gefährten zu werfen.
Ihr Gesicht war von Pickeln und Warzen übersäht. Aus Nase und am Kinn sprießten lange, sich kringelnde Haare. Ihre wenigen Zähne waren schwarz. Strähniges, maisgelbes Haar drang unter einer geflochtenen Kappe hervor. Das gräßliche Aussehen wurde durch das geschlossene Auge verstärkt, das bei einem Unfall oder durch eine Krankheit verloren gegangen sein mußte. Der ekelerregende Gestank ging mehr von ihr als von dem Inhalt des dampfenden Kessels aus.
»Ich war sein Schüler«, sagte Raistlin, der die Ogerin offen ansah und sich leicht verbeugte. »Morat vertraut mir, und deshalb hat er mir verraten, wie und wo du zu finden bist. Ich hatte weder die Zeit noch die Möglichkeit, vorher eine Nachricht zu schicken. Wir haben eine dringende Angelegenheit zu erledigen.«
Die häßliche Ogerin hob einen Löffel der undefinierbaren, scheußlichen Flüssigkeit, die sie umgerührt hatte, an die Lippen und probierte stirnrunzelnd. Dabei blinzelte ihr gutes Auge Raistlin abschätzig an. Tanis staunte über die Selbstbeherrschung des jungen Zauberers. Caramons Zwillingsbruder begegnete dem feindseligen Blick des Orakels, ohne mit der Wimper zu zucken und ohne offensichtlichen Widerwillen.
»Der Zauberer ist ein Plappermaul, wenn du mich fragst«, murmelte Chental Pyrnee. »Dauernd schickt er junge Klugscheißer, um mir meine Sprüche abzuluchsen. In Dreier- und in Viererreihen stehen sie vor meiner Tür und betteln um meine Hilfe. Mit einigen habe ich Mitleid und helfe ihnen weiter, nur um Morat einen Gefallen zu tun. Aber die meisten verwandle ich in Warzenschweine oder Grasschlangen. Wenn sie sich nicht selbst zurückverwandeln können, tja, dann waren sie von vornherein gar nicht dazu würdig, Magier zu sein!«
»Der Meister hat mir gesagt, daß er seit Jahren niemanden mehr zu dir geschickt hat«, erwiderte Raistlin kühn. Seine Augen begegneten ihrem verhangenen, einsamen Blick.
»Ha!« Chental Pyrnee machte Kaubewegungen mit den Lippen. Sie funkelte Raistlin an. »Mag sein, mag sein. Was weiß ich, wie die Jahre verstreichen? Aber gibt dir das das Recht, mir zu widersprechen? Ihr braven, kleinen, rotznäsigen Klugscheißer seid alle gleich. Wer sind die anderen zwei? Kann mir nicht vorstellen, daß der Zaubermeister heutzutage schon Elfen und Zwerge aufnimmt.« Mit ihrem langen, runzligen Finger zeigte sie verächtlich auf Tanis und Flint.
Flint hätte dem häßlichen Orakel am liebsten den Axtstiel auf den Kopf geschlagen, aber Tanis hielt ihn an der Tunika zurück. Er warf schnell einen Blick auf Raistlin, der ihm mit leichten Stirnrunzeln zu verstehen gab, daß sie die Ogerin respektvoll zu behandeln hatten. Tanis senkte demütig den Kopf. Es gelang ihm sogar, Flint mit einem Rippenstoß zu derselben Geste zu veranlassen.
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