»Du hast sie doch dabei?« warf Flint ein.
»Ja«, sagte Raistlin widerstrebend.
»Wir brauchen sie nicht mehr«, ergänzte Tanis. »Vielleicht nimmt sie die.«
»Das verstehst du nicht«, sagte Raistlin störrisch.
»Ich kann praktisch jedes Wort hören, das ihr sagt!« krächzte die Ogerin. Chental Pyrnee legte eine Hand ans Ohr, neigte den Kopf in ihre Richtung und kicherte. »Praktisch jedes Wort«, murmelte sie mißmutig in sich hinein, während sie weiterrührte.
Die drei Freunde rückten von ihr ab und drängten sich näher zusammen. Raistlin sprach sehr leise. »Die Flasche bedeutet mir nichts«, flüsterte der Magier, »aber sie Chental Pyrnee zu geben, verstößt gegen meine Ehre. Diese Ogerin unterstützt jeden, der ihren Preis bezahlt. Auch wenn es um einen bösen Zweck geht. Unter Umständen tut sie dies wieder. Kein magischer Gegenstand, ganz gleich wie unschuldig, sollte ihr in die Hände fallen.«
»Aber sie hat bereits wenigstens einen Gegenstand – den magischen Schlüssel oder womit sie auch das Portal aufschließt«, wunderte sich Flint. »Wäre es deshalb nicht korrekt, wenn wir ihr dafür etwas von uns geben? Auf diese Weise gewinnt sie doch keine Macht dazu.«
»Das stimmt«, räumte Raistlin zögernd ein.
»Schließlich«, fügte Tanis hinzu, »geht es vielleicht um Caramons Leben.«
»Und um Sturms«, stimmte Flint mit ein, »ganz zu schweigen von Tolpan.«
Raistlin runzelte die Stirn. »Ich nehme an, ihr habt recht«, sagte er. Der Zauberer drehte sich wieder zu Chental Pyrnee um, welche die drei beobachtet und zu lauschen versucht hatte. Ihr purpurfarbenes Auge leuchtete interessiert.
Raistlin fummelte in seinem Sack nach der Flaschenpost und zog sie heraus. Auf der Stelle griff Chental Pyrnee danach und hielt sie mit beiden Händen hoch. Ihr abscheuliches Gesicht strahlte vor Freude.
»Eine Flaschenpost!« rief sie aus. »Das ist aber hübsch! Ich habe schon Äonen keine mehr gesehen! Sind allerdings nicht sehr praktisch. Jeder Besitzer kann sie nur einmal verwenden. Aber sie können einem sehr gelegen kommen.« Plötzlich runzelte sie die Stirn. »Ich hoffe, es ist eine gute Nachricht drin, damit ich mich damit nicht langweile.«
»Wenn du Kender magst, wird es dir sehr – «, setzte Flint an, ehe Tanis dem Zwerg die Hand vor den Mund legen konnte.
Chental Pyrnee drehte sich um und starrte den Zwerg argwöhnisch an, aber Raistlin fiel ein und winkte beruhigend ab. »Sie ist von einem Kender auf einer Schiffsreise, und – «
Während sie Raistlin zuhörte, nickte sie eifrig. »Oooh! Ein Kender!« Chental Pyrnee quiekte vor Vergnügen. »Nichts könnte mich mehr erfreuen. Es sind so unterhaltsame Wesen. Vor über sieben Jahren habe ich mal einen eingestellt, der für mich putzen und fegen sollte, aber es hat nicht geklappt, denn eines Tages… Ach, was soll’s. Das ist eine lange Geschichte – wie alle Kendergeschichten –, und wenn ich mich recht erinnere, seid ihr doch etwas in Eile.«
Mit überraschender Geschwindigkeit eilte die Ogerin zu der großen Truhe und machte sie auf, wobei ihr ausladendes Hinterteil den Inhalt sorgfältig vor den Blicken ihrer Besucher verbarg. Sie wühlte in den Sachen herum, schob geräuschvoll einiges zur Seite, bis sie sich schließlich aufrichtete und umdrehte. In der Hand hielt sie triumphierend einen schimmernden schwarzen Edelstein, der an einer Silberkette hing.
»Da ist es!« verkündete das Orakel und händigte ihn Raistlin aus. »Es ist sehr mächtig, also nutzt es weise.«
»Das Amulett der Finsternis«, sagte Raistlin verwundert, während er es für die anderen hochhielt. Der Edelstein drehte sich langsam an der Kette und fing das fahle Licht im Raum ein.
Flint fand, daß er wie viele andere, schwarze Edelsteine aussah, die er in seinem langen Leben gesehen hatte. Tanis war klar, daß Raistlin das Einzigartige daran erkennen konnte.
»Natürlich«, fügte Chental Pyrnee nachdenklich hinzu, »hatte ich noch keine Gelegenheit, es selbst zu benutzen, deshalb kann ich nur vorschlagen, wie man es am besten anwendet.«
»Ich dachte, das Amulett der Finsternis wäre für immer verloren«, bemerkte Raistlin sinnend.
»Verloren vielleicht«, sagte die Ogerin, »aber nicht für immer. Außerdem habe ich nicht behauptet, daß es das eine, einzige Amulett der Finsternis ist. Das warst du. Alles, was ich garantiere, ist, daß es euch durch das Portal nach Ogerstadt bringt. Das wird es tun, soviel weiß ich. Du kannst es von mir aus auch Senfkuchenamulett nennen.«
»Wie kommen wir an die Magie?« fragte Raistlin.
Nachdem sie sich aufmerksam umgesehen hatte, beugte sich die häßliche Ogerin vor und flüsterte Raistlin etwas ins Ohr. Der Magier nickte, damit die anderen wußten, daß er zufrieden war. Er steckte das Amulett ein.
»Wo finden wir das Portal?« fragte Tanis.
»Ganz einfach«, sagte Chental Pyrnee. Mit schriller Stimme begann sie, umständlich und endlos den Weg zu beschreiben, so kompliziert, daß Tanis der Kopf schwamm. Irgendwie genau nach Osten, am Hundefelsen scharf links, dann an den Bäumen hoch zu einem tiefen Abgrund, an einem stürmischen Überhang entlang, und dann…
»Ich kenne den Ort«, sagte Flint.
Die Ogerin warf dem Zwerg einen argwöhnischen Blick zu. Auch die beiden anderen Gefährten sahen den Zwerg überrascht an. »Ich durchstreife diese Gegend seit dreißig Jahren«, sagte er stolz. »Ihr könnt mir keinen Berg nennen, auf dem ich nicht war oder den ich nicht wenigstens kenne.«
Tanis sah Raistlin zu. »Also los«, sagte der Halbelf voller Tatendrang.
»Ja«, stimmte Raistlin zu.
Wieder verbeugte er sich leicht vor dem Orakel. »Danke für deine Hilfe.«
Alle drei gingen rückwärts aus der Höhle, um die einäugige Hexe im Auge zu behalten, die mit einer Hand ihren brodelnden Kessel umrührte und mit der anderen glücklich die Flaschenpost hochhielt.
»Danke für die Flaschenpost des Kenders!« rief Chental Pyrnee ihnen nach, als sie verschwanden. »Viel Glück mit dem Portal! Bei Portalen weiß man nie so genau. Und wenn euch zufällig dieser alte Griesgram Morat über den Weg läuft, dann sagt ihm, daß er mir mindestens zehn Jahre keinen Besuch mehr schicken soll! Ich bin völlig geschafft!«Müde lagerten die drei Gefährten nur wenige Meilen hinter der Höhle des Orakels. Die merkwürdige, stinkende Ogerin hatte keinen von ihnen in bessere Laune für das vor ihnen liegende Abenteuer versetzt. Tanis sammelte Reisig und abgebrochene Äste für ein Feuer, während Flint eine Leinsamenbrühe zum Abendessen vorbereitete. Raistlin hielt sich abseits. Er aß schweigend. Sein Gesicht wirkte erschöpft und seine Augen besorgt, als sie in die tanzenden Zungen der Flammen starrten.
Schließlich kam Flints unablässiges Genörgel bei dem Magier an. »Wenn ihr umkehren wollt, dann kehrt um!« fauchte Raistlin. »Alle beide! Notfalls finde ich das Portal allein und gehe auch allein nach Ogerstadt!«
»Ich habe nichts von Umkehren gesagt«, schimpfte Flint zurück. »Ich habe über den Weg gesprochen, der morgen vor uns liegt.«
»Flint hat gesagt, daß es ein abgelegener Sims ganz oben auf einer kahlen Klippe ist«, erklärte Tanis einlenkend. »Ziemlich schwierig zu klettern.«
»Wie weit?« fragte Raistlin, der sich wieder gefaßt hatte.
»Nicht weit«, muffelte Flint, der an seiner braunen Brühe nippte. »Das ist nicht das Problem. Ich kann hochklettern und Tanis wohl auch. Aber«, fügte er mit einem Blick auf den wenig beeindruckenden Körper des jungen Zauberers hinzu, »unter Umständen ist es, ähm, für jemanden von deiner, ähm, Kondition, ähm, nicht zu schaffen.«
»Wie weit?« beharrte Raistlin.
»Nur eine, vielleicht zwei Stunden«, meinte Tanis.
»Gut«, sagte Raistlin.
»Woher wissen wir, daß das Orakel die Wahrheit gesagt hat? Woher wissen wir, daß es da oben wirklich ein Portal gibt? Woher wissen wir, daß es nicht eine verdammte Zeitverschwendung ist?« Flints Stimme wurde immer lauter.
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