Raistlin hatte deutlich gesagt, wie wichtig diese Ogerin in ihrer Höhle war, wenn sie Tolpan, Sturm und Caramon wirklich retten wollten. Er hatte ihnen auch deutlich gesagt, wie gefährlich Chental Pyrnee werden konnte, wenn man sie verärgerte.
»Das sind meine Freunde«, sagte Raistlin.
Der Blick der Ogerin ging zurück zu dem jungen Zauberer. »Freunde, pah! Einen Feind kann man leicht erkennen«, sagte Chental Pyrnee kryptisch, »aber noch viel leichter kann man sich in Freunden irren. Ein Feind kann sich mit einer einzigen Tat verraten. Ein Freund muß sich immer wieder beweisen.«
»Ganz meine Meinung«, nickte Raistlin.
Während sie argwöhnisch den jungen Zauberer beobachtete, schöpfte Chental Pyrnee einen weiteren Löffel aus dem Kessel. Dann schleuderte sie die Flüssigkeit unerwartet so nah neben Raistlin an die Wand, daß er schnell ausweichen mußte, um nicht getroffen zu werden. Die Flüssigkeit ließ das felsartige Holz verschmoren und rann zischend die Wand herunter, wobei die äußere Schicht wegbrannte und strahlende, kupfer- und türkisfarbene Muster sichtbar wurden. Einen kurzen Augenblick war der Raum von Licht und Farbe durchflutet. Dann verging beides flackernd.
Tanis konnte Flint gerade so eben festhalten. Raistlins Gesicht war angespannt, doch er sagte nichts. Der junge Zauberer wußte, daß die Ogerin versuchte, ihn einzuschüchtern. Er war wirklich beeindruckt und hatte nicht gerade wenig Angst. Morat hatte ihn gewarnt, Chental Pyrnee könne gefräßig sein.
Das Orakel rührte weiter sein Gebräu um und beobachtete Raistlins Reaktion. Über dem dampfenden Kessel wogte Nebel. Die Wand zischte. Das einzelne Auge der Ogerin blickte durch die Höhle und erfaßte die Gefährten.
Schließlich sagte sie: »Solche Tricks könnte ich den ganzen Tag vorführen«, und brach damit die Spannung. Unwillkürlich war sie außerordentlich zufrieden mit dem respektvollen Betragen dieser drei ungewöhnlichen Gefährten. Plötzlich hörte sie mit ihrem unablässigen Rühren auf. »Aber«, fügte die häßliche Ogerin hinzu und zwinkerte Raistlin mit ihrem verfärbten Auge deutlich zu, »ihr seid in Eile und habt Wichtiges zu tun. Was führt euch zur alten Chental? Es sollte aber wichtig oder wenigstens interessant sein. Langweilige Besucher ertrage ich nicht. Jedenfalls nicht lange.« Sie stieß ein harsches Keckem aus.
Raistlin trat vor. Er wühlte in seinem Sack und zog ein dickes Stück Lochkäse heraus, der in einfaches, weißes Papier eingewickelt war. »Wir haben dir ein Geschenk mitgebracht«, sagte er höflich.
Chental Pyrnee griff sofort zu, nahm das Geschenk und wickelte es gleich aus. Ihr verbliebenes Auge leuchtete sichtlich erfreut auf, als sie das dicke Käsestück in ihrer knorrigen Hand hielt. Das einzige, was Flint einfiel, während er ihr zusah, war, wie hungrig er plötzlich war und welch eine Verschwendung guten Käses das war. Der Zwerg hoffte, daß die Ogerin nicht seinen Magen knurren hörte.
Chental Pyrnee brach ein Stück Käse ab und stopfte es sich in den Mund. Kleine Bröckchen rieselten zu Boden, als sie heftig kaute. »Mmmm… lecker«, sagte das Orakel genießerisch. Chental Pyrnee hielt die Hand hoch und ließ den Rest des Käses in den dampfenden Kessel plumpsen.
Flint schluckte hörbar vor Enttäuschung. Tanis, der seine Gedanken ahnte, konnte kaum ein Lächeln unterdrücken.
»Morat wußte noch, wie gern du den Käse aus dem Ort magst«, fuhr Raistlin freundlich fort. »Und das hier«, der junge Zauberer hielt einen zugeschnürten Beutel hoch, der offenbar voller Münzen war, »habe ich dir für den Gefallen mitgebracht, um den wir bitten.«
»Und der wäre?« fragte Chental Pyrnee neugierig, als sie den Beutel nahm und in der Hand wog. Der Beutel war schwer und klimperte ordentlich. Sie brauchte ihn nicht auszuleeren und zu zählen, um zu wissen, daß diese Bezahlung für den Dienst reichte, um den man sie bitten würde.
»Vom Zaubermeister habe ich erfahren, daß du den Schlüssel zu einem Portal besitzt, das uns nach Ogerstadt am Rand des Blutmeers bringen kann. Unsere Freunde und mein Bruder sind in diesen Teil der Welt entführt worden und schweben dort in höchster Gefahr. Wir haben nicht genug Zeit, um zu Land oder zu Wasser dorthin zu gelangen, und suchen verzweifelt nach schnelleren Reisemöglichkeiten. Wir sind zu dir gekommen, weil wir darauf vertrauen, daß dir die Dringlichkeit unserer Aufgabe zusagen wird.«
Die häßliche Ogerin machte ein vorwurfsvolles Gesicht und drohte Raistlin mit dem Finger. »Morat sollte nicht überall herumerzählen, daß ich von einem Portal weiß.«
Sie dämpfte verschwörerisch die Stimme und beugte sich näher zu Raistlin, bis ihre Gesichter nur noch um Armeslänge voneinander entfernt waren. Ihr Mund verzog sich, als würde sie, wie selten genug, zu lächeln versuchen. Ihr Atem stank schlimmer als der jedes Pferdes. Das purpurrote Auge quoll aus seiner Höhle vor. »Portale existieren, weil es das Holdervolk gut meint. Sie dürfen nicht aus reinem Eigennutz benutzt werden. Das Holdervolk hat bestimmte Bedingungen gesetzt. Die dazu notwendige Magie ist von höchster Wirksamkeit.«
»Aber gibt es das Holdervolk denn wirklich?« fragte Tanis hinter Raistlin hervor. »Ist das nicht nur eine Legende?«
Das purpurrote Auge betrachtete Tanis forschend, der mit seinen Worten gedankenlos herausgeplatzt war. Der Halbelf rüstete sich für irgendeine unangenehme Reaktion des Orakels, doch Chental Pyrnee schien sich über seine unbedachten Worte mehr zu amüsieren als zu ärgern. »Oh, ich möchte meinen, daß das Holdervolk wirklich existiert«, keckerte die Ogerin. »Es gibt natürlich keinen echten Beweis, wie es für viele Dinge keinen echten Beweis gibt. Es heißt, daß Holdervolk wäre bei Tag unsichtbar und bei Nacht scheu. Aber ich glaube, daß sie immer um uns herum sind. Sie beobachten und warten. Man muß im Leben seiner eigenen Überzeugung folgen.« Sie zuckte mit den Achseln. »Ich jedenfalls glaube an das Holdervolk.«
Hier brachte sie ein weiteres, seltenes Lächeln auf die Lippen. Zweimal am Tag gelächelt, wahrscheinlich ein Rekord, dachte Flint bei sich.
Die häßliche Ogerin wandte sich wieder Raistlin zu und wog noch einmal den Geldbeutel in der Hand. Ihr Lächeln verschwand. Mit einem Ruck warf sie den Beutel in seine Richtung. Er landete zu seinen Füßen.
»Ein ganzer Karren voll Münzen würde mir nicht reichen, daß ich dafür das Holdervolk reize«, sagte sie schlicht. »Ich würde mein eigenes Leben aufs Spiel setzen.«
Wieder beugte sie sich zu Raistlin herunter und sprach langsam mit ihrem stinkenden Atem auf ihn ein. »Magie würde die Chancen erhöhen. Also, ich will nicht sagen, daß ich weiß, wo das Portal ist, und ich will nicht sagen, daß ich es nicht weiß. Wenn ich es wüßte, würde es einen magischen Gegenstand kosten, deine Bitte zu erfüllen. Kein Berg Münzen würde den geringsten Unterschied machen. Wenn du etwas Magisches bieten kannst, könnten wir vielleicht darüber reden. Als bemerkenswerter Schüler von Morat hast du vielleicht zufällig so etwas dabei. Wenn dem so ist, gebe ich dir den guten Rat, es anzubieten.«
Zufrieden grinsend ging die unangenehme Hexe wieder dazu über, ihren heißen, blubbernden Kessel umzurühren. Sie plapperte dazu vor sich hin, doch ihr purpurrotes Auge klebte weiter auf Raistlin.
Der junge Magier stand mit müdem, besiegtem Gesichtsausdruck da. Er wollte etwas sagen, überlegte es sich aber noch einmal. Die Stille im Raum wurde bedrückend.
»Raistlin!« flüsterte Tanis, der ihn heranwinkte. Der Magier drehte sich um, damit er sich mit seinem Freund beraten konnte. Flint, der die Ogerin leid war, stellte sich neben die beiden, um zuzuhören.
»Was ist mit der Flaschenpost von Tolpan?« fragte Tanis. »Das ist doch ein magischer Gegenstand, oder?«
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